Konzepte statt Kategorien lehren

Unter der Leitung der ehemaligen Studiendirektorin Nicola Spaldin hat das Departement Materialwissenschaft das Bachelor-Curriculum vollständig überarbeitet. Im Interview gibt die ETH-Professorin Auskunft über die wichtigsten Änderungen und was sie sich davon verspricht.

Unterrichtet weiterhin gerne an der guten alten Schiefertafel: Materialprofessorin Nicola Spaldin. (Foto: Friedrun Reinhold)
Unterrichtet weiterhin gerne an der guten alten Schiefertafel: Materialprofessorin Nicola Spaldin. (Foto: Friedrun Reinhold)

Was war die Hauptmotivation für die Überarbeitung des Studiengangs?
Wir wollten das Curriculum modernisieren, damit es die Materialwissenschaft zeitgemäss widerspiegelt. In der Forschung aber auch in der Anwendung ist es mittlerweile unüblich, mit nur einer Materialklasse wie Metall, Keramik oder Polymere zu arbeiten. Das zeigt sich auch in der Bezeichnung unserer Professuren. Diese sind nicht mehr nach den traditionellen Materialklassen benannt. Sie heissen zum Beispiel Professur für Hybridmaterialien oder Weiche und Lebende Materialien. Ein weiterer wichtiger Grund war, ein Gleichgewicht zwischen Wissenschaft und Technologie zu schaffen. Wir hatten das Gefühl, dass der alte Lehrplan etwas zu stark auf die wissenschaftliche Seite ausschlug und wollten daher die Ingenieursseite stärken.

Was ändert sich im Unterricht?
Wir hoffen, dass wir unsere Studierenden besser darin unterstützen können, ihre Lernziele zu erreichen. Gleichzeitig möchten wir das Studium durch die Einführung neuer Lehrmethoden attraktiver gestalten. Wir wollen statt des Frontalunterrichts das aktive Lernen fördern, insbesondere durch neue semesterlange Designprojekte und durch flipped classrooms. Es wird interessant sein, wie das bei den Studierenden ankommt.

Ist es schwierig, künftigen Studierenden Materialwissenschaft zu verkaufen?
Nein. Das Problem liegt meines Erachtens eher darin, dass sie nicht wissen, was Materialwissenschaft ist. In der Schule werden die klassischen Naturwissenschaften gelehrt. Und hierzulande wissen Schülerinnen und Schüler aufgrund all der Brücken und Tunnels, was Maschinen- und Bauingenieure machen. Materialwissenschaft ist aber eine ziemlich junge Disziplin, und viele Studieninteressierte haben noch nie davon gehört. Das ging mir auch so: Als ich mein Studium begann, dachte ich nicht im Traum daran, Materialwissenschaftlerin zu werden. Ich wusste nicht einmal, dass dieses Fachgebiet existiert.

Was ist denn Materialwissenschaft? Eine Ingenieurs- oder eine Naturwissenschaft?
Das ist eine gute Frage. Wir nannten unsere Studiengangsinitiative «Materials Redesigned BSc 2020». Zu Beginn diskutierten wir viel darüber, was Materialwissenschaft überhaupt ist. Sie ist nicht so gut definiert wie beispielsweise Physik oder Chemie. Andererseits durchdringt Materialwissenschaft alle anderen Disziplinen von Natur- und Ingenieurwissenschaften. Ein Ingenieur beispielsweise muss etwas von Materialien verstehen, um schnellere Mikroelektronik oder smartere Robotik zu entwickeln. Es wird deshalb wichtiger, dass alle die Grundlagen der Materialien verstehen und dass Materialwissenschaftler gut mit Expertinnen aus anderen Fachgebieten kommunizieren können. Materialstudierende müssen deshalb sowohl Wissenschaftler als auch Ingenieure sein.

Welche Kompetenz vermittelt das Materialstudium neben Grundlagenwissen?
Die Herausforderung war, dass das neue Curriculum den Studierenden Platz bietet, um mehr Erfahrung in «Design Thinking» und «Engineering Design» aufzubauen. Der Studiengang soll mehr kreative Freiräume gewähren, ohne die wissenschaftlichen Grundlagen zu vernachlässigen. Wie wir diese Anforderungen zusammenbringen, ohne dass der Studiengang zehn Jahre dauert, war wirklich eine Herausforderung.

«Als ich mein Studium begann, dachte ich nicht im Traum daran, Materialwissenschaftlerin zu werden. Ich wusste nicht einmal, dass dieses Fachgebiet existiert.»Nicola Spaldin

Was fällt im neuen Curriculum weg, was bisher gelehrt wurde?
Einige spezifische Themen haben wir auf Masterstufe verschoben. Die grösste Veränderung ist meiner Meinung nach, dass die Lernziele auf Konzepte statt auf Inhalt ausgerichtet wurden. Wir wollen unsere Studierende dazu befähigen, Materialkonzepte zusammenzuführen und sie miteinander zu kombinieren. Sie sollen insbesondere dazu fähig sein, mit intellektuellen Ungewissheiten klarzukommen und das das Lernen nicht für etwas halten, das ihnen Antworten gibt.

Wann werden die ersten Bachelor-Studierenden dem neuen Studienplan folgen?
Bereits diesen Herbst.

Was geschieht mit den Bachelor-Studierenden, die noch dem bisherigen Curriculum folgen?
Sie bleiben im alten Curriculum mit den bisherigen Regeln. Wir werden aber damit beginnen, einige der Lehransätze und Ideen, die wir für das neue Curriculum entwickelten, in die laufenden Lehrveranstaltungen einzubauen. Der Input der aktuellen Bachelor- und Masterstudierenden war übrigens sehr wertvoll, und wir haben viele ihrer Vorschläge in die Überarbeitung aufgenommen.

Wie sieht es mit den Master-Studiengängen aus? Werden diese ebenfalls angepasst?
Ja, aber das wird nicht mehr meine Aufgabe sein. Das wird mein Nachfolger als Studiendirektor machen. Der Master muss revidiert werden, damit die beiden Curriculae wieder zusammenpassen.

Haben Sie einen Favoriten unter den Lehrmethoden?
Als ich mit meiner Lehrtätigkeit begann, kannte ich nur das Format der Vorlesungen. Also hielt ich Vorlesungen. Bald darauf versuchte ich die Methode des flipped classroom, ehe sie richtig etabliert war – das funktionierte überhaupt nicht. Das war allerdings vor Jahrzehnten, als man noch wenig über das Konzept des flipped classroom wusste. Heutzutage verwende ich unterschiedliche Formate und mische Vorlesungen, Übungen und praxisorientierte Lernkomponenten. Bei einigem Lehrstoff habe ich noch nicht herausgefunden, wie man den Studierenden etwas beibringen kann, ohne dass man mit ihnen auf der Wandtafel Schritt für Schritt den Stoff durchgeht. Noch immer halte ich dies für eine der effektivsten Lehrmethoden. Die Studierenden schätzen diese Methode, obwohl sie ein bisschen altmodisch scheint. Powerpoint-Präsentationen nutze ich übrigens nie, ausser ich habe das Gefühl, dass meine Studierenden etwas Schlaf nachholen müssen (schmunzelt).

Sie haben in Ihrem externe Seitepersönlichen Blog, den Sie während des Projekts führten, die Überarbeitung des Bachelor-Curriculums in Materialwissenschaft mit dem Brexit verglichen. Weshalb?
Unser Projekt startete fast zur selben Zeit, als die britische Bevölkerung über den Brexit abstimmte. Und nun hiess die ETH-Schulleitung unseren revidierten Studiengang gut, kurz vor Grossbritanniens Austritt aus der EU am 31. Januar! Zu Beginn der Studiengangsüberarbeitung besuchte unser Projektteam einen Grundlagenkurs in Projektmanagement. Dadurch wurde mir nur noch klarer, wie schlecht Grossbritannien den EU-Austritt ausführte. Ich muss aber einräumen, dass ich als Britin zu der Zeit, als ich den Blogbeitrag schrieb, wohl auch in einer Art «Brexit-Depression» steckte. Der Blog half übrigens sehr, die Kommunikation über die Studienplanreform innerhalb des Projektteams und des Departements aufrechtzuerhalten.

Nun sind Sie aber an einem Punkt, wo Sie das Schlimmste hinter sich haben?
Eigentlich stand es nie schlecht um das Projekt. Es gab einfach sehr viel zu tun. Wir haben nun den Grossteil der Arbeit an der «Philosophie», was Materialabgängerinnen und –abgänger können müssen, an der Struktur und an den Lernzielen abschlossen. Die Lernziele für jedes Modul sind festgelegt. Nun muss noch jeder Dozent, jede Dozentin die Details der einzelnen Lehrveranstaltungen entwickeln. Vom Aufwand her ist das vergleichbar mit der Vorbereitung neuer Vorlesungen oder Lehrprojekten.

Zur Person

Nicola Spaldin war von 2015 bis 2019 Studiendirektorin des Departement Materialwissenschaft. Sie ist seit 2011 Professorin für Materialtheorie und hat zahlreiche Auszeichnungen in Lehre und Forschung erhalten, unter anderem die Goldene Eule des VSETH und den Schweizer Wissenschaftspreis Marcel Benoist 2019.

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