«Seine mathematische Intelligenz war unerreichbar»

John von Neumann war einer der bedeutendsten Mathematiker und Computerpioniere des 20. Jahrhunderts – und er war ein ETH-Alumnus. Er studierte hier von 1923 bis 1926 Chemie. ETH-Professor Benjamin Sudakov würdigt anlässlich eines Symposiums sein mathematisches Vermächtnis.

Altes schwarzweiss Foto einer Gruppe Männer, darunter Albert Einstein und John von Neumann.
John von Neumanns (im Hintergrund auf der linken Seite ) mathematische Fähigkeiten waren schon zu seinen Lebzeiten legendär: in Princeton stand er unter anderem mit Albert Einstein im Austausch. (Bild: Princeton University / Palmer Lab Researchers and of Physics Department Faculty)

ETH-News: Beginnen wir mit einer Anekdote. John von Neumanns Fähigkeiten im Kopfrechnen waren legendär. Man sagt, dass er selbst die komplexesten Probleme blitzschnell lösen konnte.
Benjamin Sudakov: Das stimmt. Das Erste, was jeder über John von Neumann sagt, ist das phänomenale Tempo, mit der er dachte. Er musste sich nicht an Dinge erinnern, er berechnete sie. Wen ihm jemand eine Frage stellte, zu der er die Antwort nicht wusste, dachte er drei Sekunden lang nach, dann hatte er die Antwort. Dennoch war schnelles Denken allein nicht seine herausragendste Eigenschaft. Er war auch äusserst tiefgründig. Es ist die Breite seines wissenschaftlichen Erbes, die mich am meisten erstaunt.

Heute gilt John von Neumann als einer der bedeutendsten Mathematiker des 20. Jahrhunderts und als Computerpionier.
Er war ein Visionär, was die ersten Computer angeht. Sein Interesse an Computern war durch die angewandten Probleme motiviert, die er zu lösen versuchte. Ausserdem hatte er einen unglaublichen Einfluss auf die Entwicklung der modernen Mathematik. Nur um die schiere Bandbreite seines Erbes zu verstehen: Selbst sehr einflussreiche Wissenschaftler:innen werden in der Regel mit höchstens drei bis vielleicht sieben grossen wissenschaftlichen Errungenschaften in Verbindung gebracht. Wenn Sie sich John von Neumann ansehen, werden Sie mehr als 100 bedeutende Beiträge zu unterschiedlichen wissenschaftlichen Themen und Gebieten finden. Ich glaube, dass er, was die mathematische Intelligenz betrifft, für alle unerreichbar war.

Altes schwarzweiss Foto von John von Neumann.
John von Neumann (1903-1957) studierte in den 1920er-Jahren an der ETH Zürich Chemie. Er leistete herausragende Beiträge zur Mathematik, Informatik und Quantenphysik. (Bild: U.S. Department of Energy)

Als John von Neumann sein Studium an der ETH begann, war er in Chemie eingeschrieben.
Von Neumann studierte aus zwei Gründen Chemie: Einerseits war es ein Kompromiss mit seinem Vater, einem wohlhabenden Bankier, der darauf bestand, dass er etwas studiere, das ihm ein richtiges Einkommen einbringe. Zum anderen hatte er zeitlebens eine grosse Affinität zu Anwendungen, die sich nicht nur in seiner Beschäftigung mit den ersten Computern, sondern auch in der Chemie zeigte. Schliesslich promovierte er 1926 an der ETH Zürich in Chemieingenieurwesen und schloss im selben Jahr in Budapest ein Doktorat in Mathematik ab.

Zur Zeit seines Studiums war die ETH auch ein weltweiter Brennpunkt für mathematische Forschung. Hatte er Kontakt zu ETH-Mathematikern?
Er hat den Austausch tatsächlich gepflegt. Er sprach oft mit einem anderen herausragenden ungarischen Mathematiker, George Pólya, der zu von Neumanns Studienzeit als Professor an der ETH lehrte. Von Pólya stammt ein sehr berühmter Ausspruch über John von Neumann. Er sagte, der einzige Student, vor dem er sich je gefürchtet habe, sei Johnny wie er ihn zu nennen pflegte. Wenn Pólya in einer Vorlesung ein ungelöstes Problem ansprach, war es sehr wahrscheinlich, dass von Neumann am Ende der Vorlesung zu ihm kam, und ihm die vollständige und auf einem Zettel hingekritzelte Lösung übergab.

Welches sind von Neumanns grösste Errungenschaften als Mathematiker?
Es ist erstaunlich, wie leicht es ihm fiel, von einem Gebiet der Mathematik in ein anderes zu wechseln. Er hat nicht nur bestehende fundamentale Probleme gelöst, sondern auch völlig neue Gebiete geschaffen. Zu den Forschungsgebieten, in denen er schon sehr früh einen grundlegenden Beitrag geleistet hat oder sogar der erste überhaupt war, gehört die Quantenphysik, die Ergodentheorie, die Spieltheorie und die Monte-Carlo-Methode.

Welchen Beitrag leistete er zur Quantenphysik?
Zu der Zeit, als von Neumann die ETH verliess, hatten die Physiker bereits verschiedene Konzepte und Einsichten in die Funktionsweise der Quantenmechanik, aber es fehlten ihnen eine stringente Sprache und strenge mathematische Grundlagen zu deren Beschreibung. In kurzer Zeit entwickelte von Neumann eine ganze mathematische Sprache und Methodik. Sein Buch über die mathematischen Grundlagen der Quantenmechanik ebnete den Weg für ein neues Forschungsgebiet. Dies war bereits ein so bedeutender Beitrag zur Wissenschaft, für den allein er bis heute erinnert würde.

Und seine anderen wichtigen Beiträge?
Auch in der Ergodentheorie war er einer der Gründerväter. Diese Theorie befasst sich normalerweise mit dem Langzeitverhalten verschiedener physikalischer Systeme. Sie setzt zum Beispiel die Bewegungen einzelner Moleküle mit einem Gas als Ganzes in Beziehung. Auch hier hat von Neumann die Grundlagen für mathematisch exakte Analysen gelegt.

Porträtfoto von Benjamin Sudakov
«Es ist die Breite seines wissenschaftlichen Erbes, die mich am meisten erstaunt.»
Porträtfoto von Benjamin Sudakov
Benjamin Sudakov

Was ist mit Monte Carlo?
Er arbeitete in Los Alamos im Manhattan-Projekt, als die USA die erste Atombombe bauten. Zusammen mit anderen Mathematikern führte er verschiedene, sehr komplizierte Berechnungen zu nuklearen Kettenreaktionen durch. Die Wissenschaftler entwickelten eine auf Zufallsmessungen basierende Berechnungsmethode, die ein Verständnis sehr komplizierter Phänomene ermöglichte. Heute ist die Monte-Carlo-Methode ein sehr leistungsfähiges Instrument, das sich gar nicht hoch genug einschätzen lässt. Sie hat sich in allen Bereichen der Wissenschaft als nützlich erwiesen, da sie Schätzungen für Prozesse ermöglicht, die empirisch schwer zu berechnen sind.

Warum wird sie Monte Carlo genannt?
John von Neumann und seine Partner Stan Ulam und Nicolas Metropolis waren verpflichtet, ihre Forschungen durch ein Codewort geheim zu halten. Da erinnerte sich Metropolis seines Onkels, der im Casino von Monte Carlo spielte. Sie sagten sich einfach, okay, das Glücksspiel ist sehr ähnlich, also nennen wir die Methode Monte Carlo.

Was das Glücksspiel betrifft, so hat John von Neumann auch die Spieltheorie erfunden, die heute in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften weit verbreitet ist. Diese Theorie beschreibt auch die Logik der Abschreckung im Kalten Krieg. Welchen Stellenwert hat sie in der Mathematik?
Die Spieltheorie wurde vollständig von John von Neumann mit Hilfe des Wirtschaftswissenschaftlers Oskar Morgenstern erfunden. Ein interessantes Ergebnis ist das sogenannte Minimax-Theorem, das eine der wichtigsten mathematischen Ideen der Spieltheorie ist. Das Minimax-Theorem beschreibt ein Nullsummenspiel, bei dem sich, einfach ausgedrückt, mein Verlust und der Gewinn meines Gegners die Waage halten. Mathematisch interessant ist, dass sich auf der Grundlage des Minimax-Satzes auch bestimmen lässt, wie effizient ein randomisierter Algorithmus sein kann. Das spielt in der Informatik eine Rolle.

Es bleibt zum Schluss die Frage, warum er keinen Nobelpreis bekommen hat?
Der Nobelpreis wird für angewandte Aspekte der Wissenschaft verliehen. Die Mathematik steht da nicht auf der Liste. Er wird normalerweise an Personen verliehen, die sich in einem späteren Stadium ihrer Karriere befinden. Von Neumann ist 1956 sehr jung gestorben – und die Wirtschaftsnobelpreise für die Spieltheoretiker wurden viel später vergeben.

Symposium zu Ehren von John von Neumann

Zu Ehren von John von Neumann (1903–1957), der 1923 sein ETH-Studium begann, findet heute Freitag, 2. Juni 2023 ein Symposium statt. Dieses haben Professoren verschiedener Departemente der ETH Zürich und der Universität Zürich organisiert.

Freitag, 2. Juni 2023, Audimax der ETH Zürich (HG F 30), Rämistrasse 101, Zürich.
Beginn um 15.00 Uhr, mit vier Vorträgen von:

  • Serge Haroche, ENS Paris, Träger des Nobelpreises für Physik im Jahr 2012, über Quantenmechanik und Quanteninformation
  • Yurii Nesterov, Katholische Universität Löwen, Belgien, Preisträger des John-​von-Neumann-Theoriepreises 2009, über Methoden höherer Ordnung zur Gleichgewichtsfindung
  • Larry Samuelson, Cowles Foundation an der Yale University, über Wirtschaft, Nutzen und Spieltheorie
  • Benjamin Sudakov, ETH Zürich, über mathematische Beiträge von Neumanns
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