Was ist Leben?

Diese Frage haben wir Forscher:innen der ETH Zürich gestellt. Fünf überraschende Antworten aus der Perspektive von Biomedizin, Informatik, Biologie, Robotik und Philosophie.  

Leben und Tod in uns

«Der Baustein des Lebens ist die DNA. Sie enthält alle Informationen, die wir zum Leben benötigen, von der Fortpflanzung über den Stoffwechsel bis hin zum Wachstum und dem Wahrnehmen von Reizen. Auch, dass wir aus Zellen bestehen, ist ein Kriterium für Leben. Im Gesamtkonstrukt Mensch spielt sich Leben auf verschiedenen Ebenen ab: auf Körper-, Zell- oder molekularer Ebene. Es gibt 'Leben im Leben', und so haben wir zum Beispiel auch viele Bakterien im Körper, die ihr Eigenleben in Symbiose mit uns führen.

Mit unserem Forschungsansatz versuchen wir, das Leben zu verbessern oder sogar zu verlängern. Dabei machen wir uns das Lebensprinzip der Vervielfältigung zunutze. So können wir aus Bakterien mithilfe von Nanomaterialien lebende Mikroroboter herstellen, die sich von aussen steuern lassen, Wirkstoffe im menschlichen Körper transportieren und Krebszellen zerstören.

Dadurch, dass in uns ständig Zellen absterben und wieder neue entstehen, tragen wir nicht nur Leben, sondern auch Tod in uns. Auch die Endlichkeit gehört zum Leben.»

Portrait von Simone Schürle

Simone Schürle ist Assistenzprofessorin für Reaktionsfähige Biomedizinische Systeme.

Das Zwischenmenschliche macht den Unterschied

«Das, was wir heute künstliche Intelligenz nennen, ist noch weit vom biologischen Leben entfernt. Wir vergessen manchmal, welch komplexe Fähigkeiten wir haben. Zum Beispiel in der Interaktion: Ein Roboter, der Menschen unterstützt, müsste laufend voraussehen, was sein Gegenüber als Nächstes entscheiden und tun könnte, damit dieses nicht ständig warten muss, bis der Roboter über seine nächste Handlung entschieden hat. Entscheidungsprozesse nachzubilden, ist schwierig, weil Dinge wie Erfahrung, Persönlichkeit oder auch der momentane Kontext eine Rolle spielen.

Oder beim Antizipieren: Wir Menschen können sehr gut einschätzen, wann wir in einem Gespräch an der Reihe sind, da wir intuitiv die Körpersprache, Blickbewegungen sowie verbale Kommunikation interpretieren. Maschinen können dies noch nicht. Auch deshalb würden wir ein Gespräch mit einer künstlichen Lebensform als unnatürlich empfinden. Aktuell versuchen wir, eine solche 'Intuition' mit Daten und mathematischen Modellen nachzubilden.»

Portrait von Otmar Hilliges

Otmar Hilliges ist Professor für Informatik.

Lebensähnliche Interaktionen

«Wenn Roboter lebensähnlicher werden, dann soll das vor allem geschehen, um Lebewesen zu unterstützen. Meine Gruppe arbeitet an Systemen, die sich besser in den menschlichen Lebensraum einbetten und sich in unserem natürlichen Lebensraum besser zurechtfinden können. Menschen mögen den Kontakt mit Wesen, die uns ähnlich sind, die sich lebendig anfühlen. Wenn uns die Struktur, aus der ein robotisches System gemacht ist, also näherliegt, verbessert das die Interaktion. Wir entwickeln deshalb robotische Systeme mit Muskeln oder weichen Greifarmen. Solche Roboter sind jedoch eine Herausforderung für die Steuerung. Bei klassischen Robotern ist die Bewegungsfreiheit genau definiert und nach Achsen geordnet. Solche Systeme lassen sich einfacher modellieren, weil die Anzahl Parameter limitiert ist. Aber so ist das Leben nicht. Lebewesen lassen sich nicht exakt definieren. Dafür können sie mit Ungenauigkeit und Spontanem sehr gut umgehen. Nach dieser Flexibilität streben wir mit unseren Systemen.»

Portrait von Robert Katzschmann

Robert Katzschmann ist Assistenzprofessor für Robotik.

Vom linearen Code zum dreidimensionalen Leben

«Eine Eigenschaft von Leben ist die Fortpflanzung, sie läuft über unseren linearen Code, die DNA. Mit unserer Forschung wollen wir Mechanismen der Selbstorganisation aufdecken: Wie kann lineare Information in die dreidimensionale Gestalt und all die Funktionen übersetzt werden, die uns Menschen und andere höhere Organismen ausmachen? Und wie können diese Mechanismen in der Evolution trotz unterschiedlicher Entwicklungsgeschwindigkeiten und Grössen bestehen – und sich weiterentwickeln? Die Vererbung komplexer Strukturen ist ein wichtiger Aspekt bei der Entstehung von Leben.

Da wir mit Embryonen arbeiten, stellt sich die Frage 'Was ist Leben?' auch aus ethischer Sicht: Wann beginnt menschliches Leben, das schützenswert ist? Diese Frage wird international sehr unterschiedlich beantwortet, was eine Herausforderung für die Forschungszusammenarbeit sein kann.»

Portrait von Dagmar Iber

Dagmar Iber ist Professorin für Computational Biology.

Fliessende Übergänge

«Die Ethik fragt nicht nur, was Leben ist, sondern auch, welches Leben ethisch zählen soll. Lange gab es das Bemühen, menschliches Leben grundsätzlich von tierischem und pflanzlichem abzugrenzen. Dieser Ansatz aber ist verfehlt, er hat der wissenschaftlichen Kritik nicht standgehalten und ist philosophisch unbefriedigend. Die Übergänge sind fliessend, nicht menschliche Tiere und Pflanzen haben Fähigkeiten und Seinsweisen, die wir Menschen ihnen nicht zugerechnet haben. Die Fähigkeit etwa, handeln zu können, galt lange als Königsdisziplin des Menschlichen, heute wird sie auch anderen Tieren, etwa Delfinen, zugeschrieben. Und Menschen haben es nicht nötig, den nicht menschlichen Lebewesen überlegen zu sein. Eine der grossen Fragen der Ethik der Gegenwart ist, ob und wenn ja, welche nicht menschlichen Tiere und Pflanzen in welcher Weise ethisch zu berücksichtigen sind. Auch wird diskutiert, ob ganze Ökosysteme oder sogar die ganze Erde als Lebewesen betrachtet werden sollen.»

Portrait von Nadia Mazouz

Nadia Mazouz ist Professorin für Praktische Philosophie.

«Globe» Dem Leben auf der Spur

Globe 22/04

Dieser Text ist in der Ausgabe 22/04 des ETH-​​​​Magazins Globe erschienen.

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