In der Höhle des Löwen

Karin Iten kennt die Grenzen menschlichen Handelns und Wissens. Dennoch arbeitet sich die Agnostikerin und ETH-Umweltwissenschaftlerin an einer schier unlösbaren Aufgabe ab: Kulturwandel in der katholischen Kirche.

Karin Iten
ETH-Alumna Karin Iten, Präventionsbeauftragte des Bistums Chur. (Bild: Daniel Winkler)

Sie untersuchen vergiftete Flüsse, nehmen Proben von vermüllten Wiesen oder verpestete Böden unter die Lupe: Umweltnaturwissenschaftler:innen bewegen sich mitunter in kontaminierten Gebieten. Auch Karin Iten arbeitet an einem «toxischen» Ort, wie sie sagt. Doch die ETH-Alumna hat keine Atemschutzmaske auf. Statt Gummistiefeln trägt sie rote, offene Lederschuhe und statt Schutzanzug eine pechschwarze Lederjacke.

Iten ist Präventionsbeauftragte des Bistums Chur, angestellt von der katholischen Kirche im Kanton Zürich. Das Gift, gegen das sie ankämpft, das ist Machtmissbrauch, das ist spirituelle Manipulation, das ist sexuelle Ausbeutung. Die etwas andere Dreifaltigkeit. Einiges davon wurzelt tief – in heiligen Texten, in einer auf Männer in langen Roben pyramidisch zugespitzten Hierarchie, im Anspruch auf Deutungshoheit übers Leben und das, was darüber hinausgehen könnte. Veranlagung zum Machtmissbrauch also?

Einige Religionen hätten tatsächlich ein Grundproblem, sagt Iten. «Vor allem wenn sie vorgeben, es gäbe eine einzige ewige Wahrheit. Dadurch werden Macht und Spiritualität gekoppelt – das ist ein Systemfehler.»

Iten verwendet das Wort «System» immer wieder. Sie hat es an jenem Ort, den sie heute sieht, wenn sie durch ihr Bürofenster nach draussen schaut, vor Jahrzehnten zum Teil ihres Denkens gemacht. Dort tanken gerade Studierende ein wenig Herbstsonne auf der Polyterrasse. Die ETH Zürich liegt nur wenige Meter oberhalb der Büros der katholischen Kirche im Kanton Zürich. Ironie der Stadtplanung oder steht Wissen tatsächlich über Glauben? Iten, die sich freut, ihre Alma Mater im Blick zu haben, lächelt. «Ich würde sagen: Zweifel und Bescheidenheit stehen über Glauben.»

Sie bezeichnet sich daher auch als Agnostikerin, nicht als Atheistin. Wer kann schon den endgültigen Beweis führen? «Wissen ist auch begrenzt», sinniert die 51-Jährige. Das sei eine wissenschaftliche Herangehens- und Denkweise, die sie an der ETH Zürich gelernt habe. Dort studierte sie von 1990 bis 1996 im zweiten Jahrgang Umweltnaturwissenschaften. Lernte, «zu hinterfragen, vernetzt und interdisziplinär zu denken». Und sie begriff, wie Systeme lernen: «Durch Vernetzung, Diversität im Innern und Impulse von aussen.»

Wenn man sich mit Karin Iten unterhält, dann merkt man schnell, wer hier im Bistum Chur ein Impuls ist. Er heisst Karin Iten. «Es ist wichtig, dass sich in jedem System auch Menschen bewegen, die out of the box kommen.» Weiter ausserhalb der Box könnte sie kaum sein: Iten ist säkular, agnostisch, Naturwissenschaftlerin. Und: «Ich bin eine Frau, kritisch und fordernd.» Wie kommt jemand an einen Ort, der ihr so fremd ist? 

Iten wächst im sankt-gallischen Wil als Tochter zweier katholischer Innerschweizer:innen auf. Besuche in der Kirche bleiben aber sporadisch. Im Alltag spielt der Glaube keine Rolle. Vielmehr die Umweltdebatten der 1980er-Jahre. Als es ums Waldsterben geht, da will die junge Karin Iten etwas unternehmen. Engagiert sich kurzzeitig politisch bei einer grünen Ortsinitiative. Und beginnt dann ihr ETH-Studium. «Dort war ich aber nicht an technischen Lösungen interessiert», erinnert sich Iten. Sie interessiert sich vor allem dafür, wie der Mensch mit der Natur in Verbindung steht – und wie er mit ihr umgeht. Hier in den Vorlesungssälen und Seminarräumen der ETH findet Karin als Mittzwanzigerin das, was sie von nun an in allen ihren beruflichen Stationen begleiten wird: «Die Suche nach dem achtsamen Umgang mit Macht und nach dem umsichtigen Mass. Der Mensch ist unglaublich mächtig – Suffizienz rund um Macht ist entscheidend.»

Zu Beginn, während eines Praktikums in der Entwicklungszusammenarbeit in Madagaskar, oder dann in ihrer Diplomarbeit in Mali, steht diese Suche nach Mass, Grenzen und Rückbindung noch in einem grösseren Kontext. Doch über die Jahre fokussiert sich Itens Suche von Umweltbildung über Suchtprävention bis hin zur Prävention sexueller Ausbeutung und Machtmissbrauch wie in einem Trichter auf den Menschen.

Zuletzt arbeitet sie bei Limita, elf Jahre als Co-Leiterin und danach als Geschäftsführerin. Sie erarbeitet Massnahmen und Konzepte zur Prävention sexueller Ausbeutung in Organisationen. Auf die Ausschreibung des Bistums Chur bewirbt sie sich – nach langem Zögern und ungläubigem Feedback ihrer Familie –, weil sie hier den grösstmöglichen Impact und eine Weiterentwicklung ihrer Arbeit wittert. In Itens Worten: «In der Kirche bin ich gelandet, weil mich die Arbeit zu sexueller Ausbeutung und Macht logischerweise in den Rachen eines Löwen geführt hat. Die Arbeit zur Prävention von Machtmissbrauch ist notwendig darin.»

«Es ist wichtig, dass sich in jedem System auch Menschen bewegen, die out of the box kommen.»
Karin Iten

Iten gegen den Systemfehler, das Brackwasser aus Spiritualität und Macht und den daraus fliessenden Machtmissbrauch. Seit Jahrzehnten mühen sich Reformer:innen in der katholischen Kirche vergebens ab. Viele sind mürbe, haben aufgegeben. Es gleicht einem Kampf gegen Windmühlen, in den sie 2020 eingetreten ist. Karin Iten als Doña Quijote? Das Wort Kampf will sie nicht gebrauchen, es gehe ums Handeln. «Es gibt Kooperation für und Aversion gegen Veränderung. Kulturwandel ist überall schwierig», sagt Iten diplomatisch. Aber auch rebellisch: «Für Wandel braucht es Subversion. Massnahmen müssen rütteln!»

Es sind zwei Karin Itens, die sich hier zeigen. Die Netzwerkerin, die von Resonanzpunkten im System und davon spricht, dass sie Dinge gemeinsam mit anderen erreiche. Diejenige, die es innert zwei Jahren geschafft hat, alle sieben Kantonskirchen im Bistum samt Bischof Joseph Bonnemain dazu zu bringen, ein klares Commitment zu unterschreiben mit Namen «Verhaltenskodex zum Umgang mit Macht – Prävention von spirituellem Missbrauch und sexueller Ausbeutung». Es ist die Frau, die Kooperation und Komfort mag und es sich in ihrem Büro gemütlich gemacht hat – mit bunten Filzbällchen, die an Schnüren nach unten baumeln, und mit einem Minisofa mit Playmobil-Männchen darauf. Eine Person, die sich selbst vom Naturell her als zurückhaltend bezeichnet.

Und dann gibt es die zweite Iten, die in ihrem schwarz-roten Outfit eine nicht gerade himmlische Farbkombination trägt und mit ihrem blinkenden Nasenpiercing eher wie die coole Tante wirkt, die man als Jugendlicher unbedingt ans Rockkonzert begleiten wollte. Jene, die ihre Faust ballt, wenn sie fordert, man müsse in der Kirche Klartext sprechen. Deren Augen bei solchen Aussagen kämpferisch funkeln und deren dicke Kajaluntermalung wie eine Unterstreichung wirkt, dass sie es mit der Challenge des Systems Kirche erst meint.

Es ist die Karin Iten, die feststellt, sie habe «die Komfortzone verlassen, um in einer toxischen und starren Organisation Weichen zu stellen.» Die feststellt: «Die Missbrauchkrise birgt Chancen zur Veränderung. Es gibt keine Prävention ohne Wandel». Jene Iten, die öffentlich kritisiert, dass der Bischof es in Kauf nehme, wenn sich engagierte Menschen in den kirchlichen Strukturen aufrieben. Und wenn dieser sagt, Homosexualität sei gemäss katholischem Glauben auf der Verhaltensebene nicht praktikabel, trotzig erwidert: «Man kann in der Sexualität das Sein nicht vom Tun trennen.»

Für Karin Iten heisst es also, die Balance zwischen beiden Seiten zu halten. Es ist, wie schon so lange, die Suche nach dem richtigen Mass und dem Umgang mit Macht – diesmal ihrer eigenen.

Wie ihre Suche weitergeht? «Aktuell bleibe ich noch, wo ich bin.» Später vielleicht nochmals in Richtung Nachhaltigkeit, back to the roots im Kampf gegen den Klimawandel? Der Dampfer sei da ja schon fast an die Wand gefahren, meint Iten mit einem etwas wehmütigen Lächeln. Ihr herausfordernder Blick sagt dagegen: «Gegen Windmühlen? Warum eigentlich nicht!»

Zur Person

Karin Iten studierte von 1990 bis 1996 Umweltnaturwissenschaften an der ETH Zürich. Nach einiger Zeit in der Entwicklungszusammenarbeit arbeitete sie sieben Jahre in der Suchtprävention und dann für die Organisation Limita, eine Fachstelle zur Prävention sexueller Ausbeutung. Sie lebt mit ihren beiden Söhnen in Weesen am Walensee. Sie erholt sich gerne in der Natur. Neben ihrem Teilpensum bei der katholischen Kirche arbeitet sie bei der Fachstelle für Sektenfragen Infosekta.

«Globe» Dem Leben auf der Spur

Globe 22/04 Titelblatt

Dieser Text ist in der Ausgabe 22/04 des ETH-​​​​Magazins Globe erschienen.

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