Wer in Zürich arbeitet, soll hier wohnen können – doch wo genau?

Dr. Sibylle Wälty

Das Projekt Neugasse in der Stadt Zürich ist umstritten. Die Raumentwicklungswissenschaftlerin Sibylle Wälty zeigt auf, wie dieses Areal einen Beitrag leisten könnte, die Wohnungsnot zu entschärfen: indem verdichteter gebaut wird als derzeit geplant.

Im Mai 2022 gab es in der Stadt Zürich mit 440'181 Einwohner:innen so viele wie noch nie.1 Das sind deutlich mehr Menschen als in den 1980er- und 1990er-Jahren, aber nur leicht mehr als beim letzten Einwohnerhöchststand in den 1960er Jahren. Allerdings wurden in der Zwischenzeit viele neue Arbeitsplätze geschaffen: Es sind fast 80 Prozent mehr als 1960. Dass die Beschäftigten gerne auch in der Nähe wohnen möchten, liegt auf der Hand. Denn eines müssen wir uns bewusst sein: Wo Arbeitsplätze geschaffen werden, steigt die Nachfrage nach Wohnraum. Ein Arbeitsplatz entspricht (bei einem Wohnungsbelegungsgrad von zwei Personen) in etwa einer Wohnung. Und das Angebot und die Nachfrage bestimmen den Mietpreis.  

Grafik mit Verläufen zu Einwohner:innenzahl und Zahl der Beschäftigten in Zürich.
(Datenquelle: Statistisches Jahrbuch der Stadt Zürich2, eigene Darstellung)

Bis zur Jahrtausendwende wurde der Bau von zusätzlichem Wohnraum ins Umland ausgelagert. Das funktionierte zwar gut, doch 2014 trat das revidierte Raumplanungsgesetz in Kraft, welches der Zersiedelung verstärkt Einhalt gebieten sollte. In der Folge stieg die Nachfrage nach Wohnraum in den Städten noch stärker. Verdichtung schien die Lösung zu sein, und es wurde viel darüber gesprochen, allerdings wurde und wird sie nicht hinreichend umgesetzt. Exemplarisch zeigt sich dies am Projekt Neugasse der SBB in der Stadt Zürich, über das die Stadtzürcher:innen am 25. September abstimmen werden. Auf einem drei Hektar grossen Areal an gut erschlossener Lage sind bloss 375 Wohnungen vorgesehen. Das heisst, es wird nicht hinreichend verdichtet, nicht so viel Wohnraum geschaffen, wie es möglich wäre.

«Das Drittels-Ziel lenkt vom Kernproblem ab.»
Sibylle Wälty

Statt über Verdichtung sprechen heute alle über das sogenannte Drittels-Ziel. Mit der Absicht, bezahlbaren Wohnraum sicherzustellen, setzte sich Zürich 2011 zum Ziel, dass auf die ganze Stadt bezogen ein Drittel der Mitwohnungen nicht-gewinnorientiert vermietet werden soll.3 Allerdings lenkt dieses Ziel vom Kernproblem – zu wenig Wohnraum an zentraler Lage – ab.

Gemeinnützige Wohnungen

Blicken wir auf das Projekt Neugasse. Es sieht vor, das Areal der heutigen SBB-Reparaturwerkstätten nördlich des Gleisfelds neu zu überbauen. Vor etwas mehr als fünf Jahren hat es das Projekt zum ersten Mal in die Medien geschafft.4 Der Plan damals war, im Jahr 2022 mit dem Bau von 300 bis 400 Wohnungen zu beginnen. Ein Drittel davon, also um die 100 bis 133 Wohnungen, sollten gemeinnützig sein. Ein Viertel der Nutzfläche soll durch Gewerbe genutzt werden. Gegen diese Pläne formierte sich allerdings Widerstand, am lautesten von der Alternativen Linken.5 Die Kritiker bemängelten, ein Anteil gemeinnütziger Wohnungen von nur einem Drittel sei bei diesem Neubauprojekt zu wenig.

Die SBB führten daraufhin einen breit angelegten partizipativen Prozess durch und präsentierten Anfang 2022 die Ergebnisse: Nebst 375 Wohnungen ist Raum für Gewerbe- und Gemeinschaftsnutzungen mit ca. 250 Arbeitsplätzen sowie eine städtische Schule und ein Kindergarten vorgesehen. Je ein Drittel des geplanten Wohnraums soll gemeinnützig, preisgünstig und im mittleren Marktsegment sein. Die Volksinitiative «Eine Europaallee genügt – jetzt SBB-Areal Neugasse kaufen», über die jetzt abgestimmt wird, fordert, dass der Wohnraum zu 100 Prozent gemeinnützig ist und das Areal durch Kauf oder im Baurecht durch die Stadt übernommen wird.6

Gesetzlichen Auftrag vollziehen

Angesichts der Tatsache, dass Zürich dringend neuen Wohnraum benötigt, sollten auf dem Areal, das künftig in der Wohnzone liegen soll, meines Erachtens wesentlich mehr Wohnungen erstellt werden als derzeit geplant.

Würden durch eine Mehrausnutzung statt 375 beispielsweise 1500 Wohnungen gebaut, könnten rein rechnerisch 3000 Menschen in attraktiven städtischen Strukturen leben. Das wäre das Vierfache der jetzt geplanten Zahl und würde einen wesentlichen Beitrag zum Vollzug des verfassungsmässigen Auftrags zur haushälterischen Bodennutzung in der Stadt leisten. Und wäre die Hälfte der 1500 Wohnungen gemeinnützig, also 750, wäre es das Doppelte der vom Verein geforderten 100 Prozent der 375 Wohnungen. Damit käme die Stadt ihrem politischen Drittels-Ziel ein schönes Stück entgegen. Das Areal böte Platz für 1500 Wohnungen und die zusätzliche Gewerbenutzung. Die städtische Schule könnte stattdessen auf dem bald frei werdenden Josef-Areal in unmittelbarer Nähe, das in der Zone für öffentliche Bauten liegt und der Stadt gehört, untergebracht werden.7

Balkendiagramm zeigt die Anteile der gemeinnützigen und nicht-gemeinnützige Wohnungen aus den unterschiedlichen Vorschlägen. Der Vorschlag der SBB sieht 250 nicht-gemeinnützige und 125 gemeinnützige Wohnungen vor, der Vorschlag der Initiative 375 gemeinnützige Wohnungen und der Vorschlag von Dr. Sybille Wälty 750 gemeinnützige und 750 nicht-gemeinnützige.
Geplante Wohnungen auf dem Areal Neugasse. (Eigene Darstellung)

Zu utopisch? Die Vorstellung sei jedenfalls erlaubt, wie es hätte herauskommen können, wenn beim Projekt Neugasse das Interesse hinsichtlich zahlbaren Wohnraums ganzheitlicher betrachtet und dem verfassungsmässigen sowie gesetzlichen Auftrag zur Verdichtung bei der Interessenabwägung mehr Beachtung geschenkt worden wäre. Vielleicht sähe das Projekt Neugasse heute Wohnraum für 3000 Personen vor? Die Diskussion ist nicht zu Ende!

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