«Ohne Risiken wäre das Leben unerträglich»

Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine hat sich die sicherheitspolitische Debatte mit einem Schlag verschoben. Ein Gespräch für das Globe-Magazin mit den ETH-Forschenden Myriam Dunn Cavelty, Vally Koubi und Giovanni Sansavini zum Thema Sicherheit und Risiko vom Januar wurde innert kürzester Zeit durch die Ereignisse überholt und deshalb nicht gedruckt. Online wollen wir es Ihnen aber nicht vorenthalten.  

Die ETH-Forschenden Vally Koubi, Giovanni Sansavini und Myriam Dunn Cavelty
Die ETH-Forschenden Vally Koubi, Giovanni Sansavini und Myriam Dunn Cavelty über Sicherheit und Risiko. (Fotos: zVg)

Wo geht ihr persönlich grössere Risiken ein als nötig?

Vally Koubi: Überall (lacht)! Morgen fliege ich nach Bangladesch, das ist in der aktuellen Lage schon ziemlich riskant.

Giovanni Sansavini: Bei gewohnten Tätigkeiten wie Essen, Trinken und Rauchen unterschätze ich die Risiken gern, aber bei ungewohnten übertreibe ich sie eher.

Myriam Dunn Cavelty: Da ich im Bereich Cybersicherheit forsche, kenne ich mich mit den Risiken von Onlineaktivitäten aus. Aber trotzdem nutze ich soziale Medien und kaufe online ein. Für eine gewisse Beruhigung sorgt meine Versicherung.

Was verstehen wir eigentlich unter Sicherheit?

Dunn Cavelty: Sicherheit hat immer mit einer Bedrohung zu tun. Ohne Bedrohung müssten wir über Sicherheit gar nicht nachdenken. Als Politologin untersuche ich, welche gemeinsamen Werte bedroht sind, wenn wir über Sicherheit sprechen, und wie unterschiedliche Akteure diese Bedrohungen interpretieren.

Giovanni, hast du als Ingenieur einen anderen Sicherheitsbegriff?

Sansavini: Keinen anderen, aber ich würde ergänzen, dass Sicherheit auch Schutz vor möglichen Verlusten bedeutet, wenn etwas schief geht. Es geht also auch um Risiken und Ungewissheiten.

Wie hat sich der Begriff der Sicherheit seit dem Ende des Kalten Krieges verändert?

Dunn Cavelty: Während des Kalten Krieges haben wir gedacht, wir wüssten, gegen welche Bedrohungen wir uns verteidigen müssen. Das hat sich geändert. Jetzt sind wir viel unsicherer, welches die wichtigsten Bedrohungen sind. Ausserdem war vor 1989 die Vorstellung weiter verbreitet, dass uns Staatsgrenzen vor Bedrohungen von aussen schützen könnten. Ziel der Sicherheitspolitik war, uns zu schützen und zu verteidigen. Mittlerweile ist die Welt enger verflochten, komplexer und ungewisser. Wir konzentrieren uns jetzt stärker auf das Risikomanagement und die kritische Infrastruktur. Wir haben uns damit abfinden müssen, dass wir uns nie vollständig vor allen Risiken schützen können. Im Mittelpunkt steht jetzt der Begriff der Resilienz.

Koubi: Seit Ende des Kalten Krieges hat sich der Sicherheitsbegriff erweitert. Wir reduzieren ihn nicht mehr auf militärische Sicherheit; er umfasst auch wirtschaftliche, soziale und ökologische Aspekte. Daher ist der Staat auch auf die Mitarbeit von Privatsektor, Zivilgesellschaft und internationalen Partnern und Organisationen angewiesen, wenn er für Sicherheit sorgen will. Man denke nur an Klimawandel, Terrorismus oder Cybersicherheit. Die wichtigsten Bedrohungen kann kein Land allein bewältigen. Internationale Zusammenarbeit ist essenziell, aber in einer zunehmend fragmentierten Welt immer schwerer aufrechtzuhalten.

«Offensichtlich besteht eine Kluft zwischen gefühlter und tatsächlicher Sicherheit.»Dunn Cavelty

Klimawandel, geopolitische Spannungen – wenn man Nachrichten liest, kann man sehr schnell den Eindruck gewinnen, dass wir in einer gefährlichen Welt leben.

Dunn Cavelty: Wir fühlen uns heute definitiv weniger sicher, obwohl es uns in vielerlei Hinsicht besser geht als unseren Vorfahren. Zumindest im Westen leben wir im Durchschnitt länger, gesünder, wohlhabender und mobiler. Offensichtlich besteht also eine Kluft zwischen gefühlter und tatsächlicher Sicherheit.

Wie kommt das?

Dunn Cavelty: Ich sehe zwei Gründe: Der eine hat mit der zunehmenden Ungewissheit und Komplexität zu tun, mit der wir konfrontiert sind. Offenbar ist uns Gewissheit über grosse Bedrohungen lieber als Ungewissheit über kleinere Bedrohungen. Zum anderen kommt unser Gefühl der Unsicherheit auch von den enormen Veränderungen in der globalen Informationssphäre. Wir werden überschwemmt mit schlechten Nachrichten aus aller Welt. Bedrohliche Ereignisse, die früher sehr weit weg waren, erscheinen plötzlich ganz nah und dringend.

Sansavini: Ob wir in einer gefährlichen Welt leben, ist ein subjektives Gefühl. Objektiv können wir aber sagen, ist, dass die Welt komplexer geworden ist. Bei den technischen Systemen, von denen unser tägliches Leben abhängt – also etwa Energieversorgung, Informationen oder Finanzdienstleistungen, um nur einige zu nennen – besteht eine enge globale Verflechtung. In Netzwerken mit vielen verschiedenen Akteuren und Ebenen ist es schwieriger, Risiken in den Griff zu bekommen.

Welches sind für uns als Gesellschaft die wichtigsten Risiken und Bedrohungen?

Dunn Cavelty: Am meisten beunruhigen mich das schwindende Vertrauen in Autoritäten und die weltweit zunehmende Polarisierung der Gesellschaft. Viele Menschen in den Entwicklungsländern, aber auch in reichen Ländern, fühlen sich abgehängt und finden deshalb, dass ihnen die auf liberalen Werten, freiem Handel und offenen Grenzen beruhende Weltordnung nichts mehr zu bieten hat. Auf die Gefahr hin, dass es nach Schwarzmalerei klingt: Ich glaube, es kommen wieder dunklere Zeiten, in denen Nationalismus und Isolationismus mehr und mehr Zulauf finden. Ich kann nur hoffen, dass die Menschen verstehen, wie wichtig die Demokratie ist, und notfalls auch dafür einstehen.

Koubi: Ich sehe das grösste Risiko im weltweiten Aufstieg autoritärer Regime. Um die dringendsten Probleme unserer Zeit zu lösen, brauchen wir ein Mindestmass an Zusammenarbeit und Ordnung auf der Grundlage gemeinsamer Werte. Doch autoritäre Staaten in aller Welt stellen diese Werte in Frage.

Den Klimawandel haben wir als grosses Risiko schon erwähnt. Was sind seine wichtigsten Auswirkungen auf die Sicherheit?

Koubi: In meiner Forschung untersuche ich, ob der Klimawandel eine starke Umweltmigration auslösen wird, durch die wiederum das Gewalt- und Konfliktrisiko steigt. Wir haben festgestellt, dass klimabedingte Umweltveränderungen nicht unbedingt zu mehr Migration führen – wenn eine Strategie der Anpassung praktikabel ist. Wir unterscheiden zwei Arten von Ereignissen, die durch den Klimawandel verursacht werden: Die einen treten plötzlich auf und sind meist von kurzer Dauer, wie Stürme und Überschwemmungen, und die anderen entwickeln sich langsam und dauern länger an, wie Dürren, steigende Wasserstände oder Bodenversalzung. Bei ersteren bleibt den Menschen oft kaum eine andere Wahl als ein Umzug, wenn auch meist innerhalb ihres Heimatlandes und nicht in weit entfernte Länder. Bei langsamen und allmählichen Klimaveränderungen ist dagegen eher denkbar, dass eine Anpassung an die veränderten Bedingungen gelingen kann.

Wie beeinflusst der Klimawandel die Wahrscheinlichkeit von Konflikten?

Koubi: Es gibt Hinweise, dass der Klimawandel in armen Regionen mit benachteiligten Bevölkerungsgruppen und schwachen politischen Institutionen, die dazu noch von der Landwirtschaft abhängig sind, die Wahrscheinlichkeit von Konflikten erhöht. So leidet etwa die Nahrungsmittelproduktion unter Dürren. Auch die Fischbestände werden sicherlich zurückgehen. Insgesamt werden Verteilungskonflikte zunehmen.

«Reiche Länder wie die Schweiz können sich zwar anpassen und schneller von Katastrophen erholen, aber auch sie werden vom Klimawandel betroffen sein.»Vally Koubi

Die Schweiz ist stark abhängig von internationalen Handels- und Versorgungsnetzen. Wie gefährdet sind wir hier?

Sansavini: Nehmen wir einmal den Energiesektor. Von ihm hängen ja viele wesentliche Leistungen ab. Die Schweiz ist fest in die europäische Energieinfrastruktur integriert. Ein Szenario, in dem die Schweiz keinen Strom aus den Nachbarländern bezieht, kann ich mir ehrlich gesagt nicht vorstellen. Die Frage ist vielmehr, welchen Preis sie zu zahlen bereit ist. Mit dem Übergang zu nachhaltigen Energiequellen wie Sonnen- oder Windkraft – die saisonal und volatil sind – wird die Abhängigkeit der Schweiz von Energieimporten in den nächsten zwei bis drei Jahrzehnten sogar noch zunehmen.

Koubi: Reiche Länder wie die Schweiz können sich zwar anpassen und schneller von Katastrophen erholen, aber auch sie werden vom Klimawandel betroffen sein. Schon heute richten Wirbelstürme und Überschwemmungen schwere Schäden an der Infrastruktur an. Es wird sehr teuer werden, die kritische Infrastruktur widerstandsfähiger zu machen, und diese Mittel fehlen dann in anderen Bereichen, etwa im Sozialsystem, bei der Altersvorsorge oder im Gesundheitswesen.

Wie können wir die Risiken für die kritische Infrastruktur bewältigen?

Sansavini: In meinem Labor haben wir von einer kritischen Infrastruktur wie der Stromversorgung einen digitalen Zwilling erstellt. Wir versuchen, die reale Welt in einem mathematischen Computermodell nachzubilden. Dadurch können wir verschiedene Szenarien simulieren. Wir können testen, wie die Stromversorgung auf Schäden durch ungewöhnliche Klimaereignisse reagiert oder auf Engpässe, die durch politische Entscheidungen entstehen. Die Simulation zeigt uns, wo die Schwachstellen liegen. Doch welche Szenarien wir uns vorstellen, ist auch eine Frage der Kreativität. Wir müssen dazu die gängigen Denkmuster verlassen. So modellieren wir etwa, wie der Übergang von einem zentralisierten Stromnetz zu einem dezentraleren System auf Basis von Wind und Sonne aussehen könnte. Ausserdem können wir analysieren, wie bestimmte Systeme altern und wie sie instandgehalten werden müssen.

Dunn Cavelty: Es geht aber nicht nur um technische Resilienz, sondern wir brauchen auch ein Erwartungsmanagement. Angesichts der gewaltigen Herausforderungen, die vor uns liegen, wird unser Leben nicht mehr so reibungslos verlaufen, wie wir es gewohnt sind. Wir müssen anfangen, die Menschen auf eine Zeit vorzubereiten, in der Extremereignisse, Unterbrechungen und Zwischenfälle häufiger werden. In der Politik besteht die Tendenz, diese Fragen auszublenden, weil das Eingeständnis schwerfällt, dass der Staat keine hundertprozentige Sicherheit garantieren kann. Wir brauchen aber eine offenere Debatte darüber, und dabei sollten Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Privatsektor eine wichtige Rolle spielen.

«Ohne Risiken wäre das Leben unerträglich. Unsicherheit gehört zum Menschsein dazu.»Giovanni Sansavini

Resilienz scheint eine entscheidende Fähigkeit zu sein.

Sansavini: Resilienz ist die Fähigkeit eines Systems, eine Disruption zu überstehen und sich davon zu erholen. Von einer Disruption sprechen wir, wenn ein System von einem Betriebszustand abweicht, der als normal gilt. Mit unserem digitalen Zwilling modellieren wir zum Beispiel, wie lang ein Stromnetz braucht, um sich von unerwarteten Störungen zu erholen, etwa von einem Blackout. Wir analysieren, welche Stromtrassen verstärkt werden sollten und wie viel Speicherkapazität wir brauchen, um das System am Laufen zu halten. Zudem denken wir über alternative Energiequellen nach, die bei starken Schwankungen zugeschaltet werden können. Allerdings geht es bei Resilienz auch darum, wie wir den Normalbetrieb definieren. Wie Myriam vorhin gesagt hat: Wir sollten offener darüber diskutieren, welche Leistungen wir aufzugeben bereit sind und zu welchem Preis.

Normalerweise bereiten wir uns auf Ereignisse vor, die uns schon bekannt sind. Aber wie bereiten wir uns auf Dinge vor, die wir noch nicht kennen?

Dunn Cavelty: Da gibt es nur eine Möglichkeit: Wir müssen uns bewusst machen, dass unvorhersehbare Dinge passieren werden und dass wir flexibel reagieren müssen. Wohlhabende Gesellschaften sind darin nicht gut. Wir sind gut versichert und können gut Systeme wiederherstellen. Aber wir sind auch unflexibel, und das ist eine grosse Schwäche.

Können wir jemals hundertprozentig sicher sein?

Dunn Cavelty: Nein, und das sind wir auch nie gewesen. Ohne Risiken wäre das Leben unerträglich. Unsicherheit gehört zum Menschsein dazu.

Sansavini: Wir können versuchen, die Ungewissheit zu verringern, indem wir unser Wissen erweitern. Aber die Mittel dafür sind begrenzt. Also führt kein Weg daran vorbei: Wir müssen lernen, mit Risiken zu leben.

Koubi: Nein, aber der Mensch hat bewiesen, dass er sich auf neue Herausforderungen sehr gut einstellen kann. Ich bin optimistisch, dass wir das, was auf uns zukommt, bewältigen können.

Zu den Personen

Myriam Dunn Cavelty ist Senior Scientist und stellvertretende Leiterin Forschung und Lehre am Center for Security Studies (CSS) der ETH Zürich.

Vally Koubi ist Titularprofessorin und leitende wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl International Political Economy and Environmental Politics der ETH Zürich und Professorin am Volkswirtschaftlichen Institut der Universität Bern.

Giovanni Sansavini ist Professor für Reliability and Risk Engineering an der ETH Zürich und Vorsitzender des ETH Risk Center. Das ETH Risk Center wurde gefördert durch Donationen von Alpiq, AXA Research Fund, Axpo, BKW, CKW, Credit Suisse, Swiss Re sowie Zurich Insurance Company an die ETH Foundation.

Dieses Interview wurde im Janaur 2022 geführt.

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