Warnung vor materiellem Wohlstand

Um ökologische Krisen zu überwinden, müssen wir materiellen Reichtum als Haupttreiber anerkennen und unsere Wirtschafts- und Lebensweise grundlegend überdenken, ist Lorenz Keysser überzeugt.

Lorenz Keysser

Hier ein neues Handy, da ein frisches Kleid, in die Ferien geht’s mit dem Geländewagen oder per Flugzeug um die Welt, und wer es sich leisten kann, kauft sich ein grosses Haus. Kurz: Wir konsumieren was das Zeug hält. Und das ist gut so, denn Konsum treibt die Wirtschaft an, und die muss schliesslich wachsen. Dann wächst auch der materielle Wohlstand. Und dieser gilt als erstrebenswert – das ist tief in unserer Gesellschaft verankert. Er bringt Ansehen, Kaufkraft und Macht. Warum also warne ich?

Berg aus Abfall
Was am Ende übrig bleibt: Das schleichende Gefühl, dass die Rechnung für den Planeten nicht aufgeht. (Bild: iStock / AlexBannykh)

Eigentlich wissen wir es ja: Wir leben auf zu grossem Fuss. Das Problem ist, dass wir mit unserem Lebensstandard unsere Lebensgrundlagen zerstören. Aus ökologischer Sicht können wir uns reich sein nicht leisten. Das ist das Kernresultat unserer vor kurzem im Journal Nature Communications veröffentlichten Perspective mit dem Titel «externe SeiteScientists’ warning on affluence».1

Konsum verursacht Ökokrisen

Wir haben die wissenschaftliche Diskussion zum Zusammenhang zwischen Reichtum, Wirtschaft und Umwelt analysiert und gelangen zu folgendem Schluss: Das ökonomische Wachstumsgebot und der damit verbundene Überkonsum sind die Haupttreiber der heutigen Umweltkrisen. All die kleinen und grossen Produkte, die immer mehr Menschen immer häufiger konsumieren, fallen ins Gewicht: Sie verbrauchen Land, Wasser und Rohstoffe, vernichten Lebensräume und erwärmen den Planeten.

Tatsächlich verursachen die global wohlhabendsten 10 Prozent Menschen (zu denen man ab einem Pro-Kopf-Einkommen von 13'000 Franken jährlich zählt) zwischen 25 und 43 Prozent des ökologischen Schadens, während die ärmere Hälfte der Menschheit gerade mal 12 bis 27 Prozent verantwortet.2 Beim Klima ist die Kluft besonders gross: Die reichsten 0.54 Prozent (circa 40 Millionen Menschen) verursachen knapp 14 Prozent aller Konsum-basierten CO2-Emissionen.3

Grünes Wachstum gibt es nicht

Viele Staaten sehen einen Ausweg in sauberen Technologien. Auch die Schweiz propagiert ein «Grünes Wachstum», das Klima und natürliche Ressourcen schonen soll, in dem es die Wirtschaft von schädlichen Effekten «entkoppelt».4 In unserem Artikel zeigen wir allerdings auf, dass es keine empirische Grundlage dafür gibt, dass die nötige «Entkopplung» auch wirklich stattfindet. Global betrachtet wurden bisher alle technologischen Fortschritte primär durch wachsende Wirtschaften, weniger durch Bevölkerungswachstum überkompensiert.5 Der Reichtum der Welt wuchs. Und mit ihm nehmen die Umweltschäden bis heute zu. Dass sich dies in Zukunft so fundamental wie nötig ändern wird, halten wir für äusserst unwahrscheinlich.6

Im Umkehrschluss bedeutet das: Wollen wir die existentiellen Probleme wie Klimawandel und Artensterben lösen, können wir uns nicht allein auf Technologie verlassen. Zusätzlich zu technologischen Entwicklungen ist es unerlässlich, das Konsumlevel der reichen Gesellschaften zu senken, hin zu einer einfacheren, genügsamen Lebensweise.6, 7

Das ist einfacher gesagt als getan. In unserem Artikel zeigen wir auf, dass die grössten Hürden für einen Wandel systembedingte Wachstumszwänge8 sind: Unsere Volkswirtschaften sind auf steigende Renditen getrimmt. Märkte und Firmen fördern den Überkonsum. Statusgüter prägen gesellschaftliche Normen. Die wohlhabenden Schichten stützen das System, indem sie die Politik zu ihren Gunsten gestalten. Das treibt eine beständige Wachstumsspirale9 an, die den notwendigen Wandel verhindert.

Was uns wirklich wichtig ist

Aber wie lässt sich die überwältigende Macht des Konsums verringern? Sicher können wir versuchen, unseren Lebensstil zu ändern. Ich sehe jedoch nicht nur das Individuum in der Pflicht – es braucht auch strukturelle (und kulturelle) Veränderungen: Wir müssen ökonomische Paradigmen finden, die nachhaltig sind.

«Was für uns als Gesellschaft richtig ist, nach welchen Normen wir unsere Wirtschafts- und Lebensweise gestalten wollen, das sollten wir in Zukunft vertieft diskutieren.»Lorenz Keysser

Gemein ist den Lösungsansätzen, die wir im Artikel beschreiben, dass sie das Wohl der Menschen und Ökosysteme über Profit und materiellen Überfluss stellen. Wie eine Welt ohne Wachstum funktionieren könnte, untersucht etwa das Forschungsfeld der Postwachstumsökonomie (siehe diesen Blogbeitrag). Charakteristika einer solchen könnten mehr lokale Produktion, genossenschaftliche Betriebsformen, mehr Mitsprache, garantierte Einkommen, reduzierte Arbeitszeiten, Ökosteuern, Genügsamkeit und geschlossene Stoffkreisläufe sein.10 Meiner Meinung nach wird dazu auch an der ETH noch viel zu wenig geforscht.

Was für uns als Gesellschaft richtig ist, nach welchen Normen wir unsere Wirtschafts- und Lebensweise gestalten wollen, das sollten wir in Zukunft vertieft diskutieren. Ein Ausgangspunkt könnte die Erkenntnis sein, dass der materielle Wohlstand, nach dem wir bislang streben, vielleicht gar nicht so erstrebenswert ist.

Referenzen

1 Wiedmann T, Lenzen M, Keysser L, Steinberger J. externe SeiteScientists’ warning on affluence. Nat Commun 11, 3107 (2020). Für weitere Warnungen von Wissenschaftlern siehe auch externe SeiteScientistswarnings.org

2 Teixidó-Figueras, J., Steinberger, J.K., Krausmann, F., Haberl, H., Wiedmann, T., Peters, G.P., Duro, J.A., Kastner, T., 2016. externe SeiteInternational inequality of environmental pressures: Decomposition and comparative analysis. Ecological Indicators 62, 163–173.

3 Otto, I.M., Kim, K.M., Dubrovsky, N., Lucht, W., 2019. externe SeiteShift the focus from the super-poor to the super-rich. Nature Climate Change 9, 82.

4 UVEK, n.d. externe SeiteGrüne Wirtschaft (accessed 6.18.20).

5 Haberl, H. et al, 2020. externe SeiteA systematic review of the evidence on decoupling of GDP, resource use and GHG emissions, part II: synthesizing the insights. Environ. Res. Lett.

6 Parrique, T., Barth, J., Briens, F., Kerschner, C., Kraus-Polk, A., Kuokkanen, A., Spangenberg, J.H., 2019. Decoupling debunked: Evidence and arguments against green growth as a sole strategy for sustainability. European Environmental Bureau.

7 Hickel, J., Kallis, G., 2019. externe SeiteIs Green Growth Possible? New Political Economy 0, 1–18.

8 Blauwhof, F.B., 2012. externe SeiteOvercoming accumulation: Is a capitalist steady-state economy possible? Ecological Economics, The Economics of Degrowth 84, 254–261.

9 Pirgmaier, E., Steinberger, J.K., 2019. Roots, externe SeiteRiots, and Radical Change—A Road Less Travelled for Ecological Economics. Sustainability 11, 2001.

10 Burkhart, C., Schmelzer, M., Treu, N., 2020. Degrowth in movement(s): exploring pathways for transformation. Zer0 Books.

Weitere Informationen

Ohne Flugzeug um die Welt: Die beiden ETH-Studierenden Giulia Fontana und Lorenz Keysser und sind 2018 mit Zug und Schiff von Zürich nach Sidney, Australien, gereist. Über ihre Erfahrungen berichteten die beiden im ETH Ambassadors Blog.

JavaScript wurde auf Ihrem Browser deaktiviert