Planen für die offene Stadt

Kees Christiaanse gehört zu den renommiertesten Städteplanern. Nach 15 Jahren als Professor an der ETH Zürich wird er diesen Sommer emeritiert. Viel ändern werde sich dadurch nicht, sagt er. In seinem Berufsstand gewinne man mit dem Alter. Deshalb wird er weiterhin für sein Ideal der offenen Stadt planen.

Kennt keinen Ruhestand: Architekt Kees Christiaanse. (Bild: Markus Bertschi)
Kennt keinen Ruhestand: Architekt Kees Christiaanse. (Bild: Markus Bertschi)

Das Architekturbüro von Kees Christiaanse liegt nicht zufällig in einem schnörkellosen Betonbau am Unteren Letten in Zürichs Stadtzentrum. Die Gegend gefällt ihm wegen seiner vielen öffentlichen und halböffentlichen Nischen, die sich die Bewohner der Stadt aneignen – farbenfrohe Buvetten, improvisierte Sonnenterrassen, alternative WM-Bars und bespielte Innenhöfe. Hier finden sich viele Charakteristiken dessen, was für Christiaanse eine «Open City» ausmacht: Stark verknotete Verbindungswege und durchdringliche öffentliche und halböffentliche Räume, die ein Maximum an sozialer Interaktion zulassen. Eine Stadt, deren Struktur möglichst inklusiv wirkt, mit multifunktionalen Gebäuden, in denen Büros, Geschäfte und Wohnungen nebeneinander existieren. Eine Stadt auch, in der Nutzer mit unterschiedlichem Alter, unterschiedlicher Herkunft und sozialem Status zusammenleben.

Seit Mitte 90er-Jahre ist die Open City das Leitkonzept des weltweit renommierten Städteplaners und ETH-Professors. 2009 erhob er sie gar zum Motto für die vierte internationale Architekturbiennale in Rotterdam, die Christiaanse gemeinsam mit seinem Team an der ETH kuratierte. Seine Biennale verlieh der Diskussion darüber, wie Architektur zu Nachhaltigkeit, sozialer Inklusion und Innovation in Städten beitragen kann, neuen Schwung.

Städtebau in Forschung verankert

Es ist einer der ersten heissen Sommertage in Zürich. Christiaanse trägt ein kurzärmeliges weisses Hemd, gesprenkelt mit grellen Farbpunkten. Trotz Projekten auf der ganzen Welt und Pendeln zwischen Zürich, Rotterdam und Singapur wirkt er entspannt. Er empfängt im kühlen Untergeschoss seines Büros, schlägt jedoch vor, das Gespräch im Freibad nebenan zu führen. Er gehe über Mittag oft in die Lettenbadi zum Schwimmen, erzählt er. Das Wasser ist eine Konstante in Christiaanses Leben. In Holland aufgewachsen, war das Meer nie weit. Später spiegelte sich die Faszination fürs Wasser in der Auswahl seiner Projekte wider, darunter viele Planungen in Hafengebieten, wie in Rotterdam und Hamburg.

Als Christiaanse 2003 als Professor für Städtebau an die ETH berufen wurde, galt es erst einmal, die Disziplin in Zürich zu etablieren. «Damals lag der Fokus noch sehr stark auf der Architektur», erinnert er sich. Zusammen mit weiteren Professoren wie Marc Angélil und Christophe Girot setzte er sich für den Städtebau in Forschung und Lehre ein. Beflügelt wurde dies durch das ETH Studio Basel, das kurz zuvor gegründet worden war. Das Departement Architektur erlebte daraufhin einen grundsätzlichen Wandel hin zu einer intensiven Auseinandersetzung mit Städten und Urbanität. Ihren vorläufigen Höhepunkt fand diese Entwicklung 2010 mit der Gründung des «Future Cities Laboratory» (FCL) in Singapur, als dessen Programmleiter Christiaanse die ersten fünf Jahre waltete.

Mit Koolhaas auf dem Kinderkreuzzug

Ein holistischer Blick auf Architektur und Städtebau durchzieht Christiaanses Werk von Anfang an. Als er in den 70er-Jahren an der TU Delft Architektur studierte, war der erste Bericht des «Club of Rome» zu den Grenzen des Wachstums bereits erschienen. Die 68er-Jahre wirkten noch nach und Themen wie Umweltschutz, soziale Inklusion und Partizipation fanden auch in der Architektur ihren Ausdruck.

Als Teil der Besetzerszene engagierte sich der junge Architekt selbst politisch gegen steigende Mieten und die Verdrängung aus der Stadt. Inspiration dafür holte er sich bei «The Death and Life of Great American Cities» der amerikanischen Journalistin und Aktivistin Jane Jacobs. Sie thematisierte schon früh die Wichtigkeit von Diversität für lebendige Städte und beschrieb aufkommende Tendenzen der Gentrifizierung und Segregation. «Obschon anfangs der 60er-Jahre erschienen, ist es bis heute eines der besten Bücher zu Stadtentwicklung geblieben», sagt Christiaanse.

«Wir waren auf einem Kinderkreuzzug. Ohne wirkliche Erfahrung machten wir bei Stadtplanungswettbewerben auf der ganzen Welt mit.»Kees Christiaanse

Nachhaltig geprägt wurde sein Schaffen auch durch Rem Koolhaas, den holländischen Doyen des Städtebaus. Als dieser an die TU Delft berufen wurde, habe dort eine Art linke Diktatur geherrscht, erinnert sich Christiaanse. «Wir haben damals mehr politisiert als Pläne gezeichnet.»

Das änderte sich mit Koolhaas, der gerade aus New York zurückgekehrt war. Er habe das Entwerfen wieder rehabilitiert und sich für stimmungsvolle Entwürfe sowie sauberen Modellbau eingesetzt. Als Koolhaas sein Büro OMA in Rotterdam gründete, lud er den Studenten Christiaanse für ein dreimonatiges Praktikum ein. Daraus wurde eine Zusammenarbeit über achteinhalb Jahre. Er erinnert sich: «Wir waren auf einem Kinderkreuzzug. Ohne wirkliche Erfahrung machten wir bei Stadtplanungswettbewerben auf der ganzen Welt mit.» Nach fünf Jahren war OMA international etabliert und das Büro auf 50 Mitarbeitende angewachsen. Christiaanse vergass darüber beinahe sein Studium abzuschliessen.

«HafenCity» und «Science City ETH»

1989 war die Zeit gekommen, um aus dem Schatten des neun Jahre älteren Übervaters zu treten. Er gründete sein eigenes Büro «KCAP Architects&Planners», das heute über 100 Architektinnen, Städteplaner und Spezialistinnen in Büros in Zürich, Rotterdam und Shanghai beschäftigt. Es folgten Megaprojekte, wie im Jahr 2000 der Masterplan für die «HafenCity» in Hamburg, mit welcher das Stadtzentrum um 40 Prozent erweitert werden soll. Voraussichtlicher Abschluss der Bauten: 2030. Wer Städtebau betreibt, muss Langfristigkeit aushalten: Vom ersten Masterplan, über die politische Legitimation und die Auswahl der ausführenden Architekten bis hin zu den Bauarbeiten vergehen oft Jahrzehnte.

Christiaanses Büro hat auch in Zürich Spuren hinterlassen: Es war für den Masterplan «Science City ETH» des Campus Hönggerberg verantwortlich. Und im Auftrag der SBB und der Stadt Zürich erarbeitete es den Masterplan für die Europa-Allee beim Zürcher Hauptbahnhof. Ein Areal von 78’000m2 an zentralster Lage, das bis 2020 Platz für 8000 Büroplätze, 400 Eigentums- und Mietwohnungen und 76 Geschäfte bieten soll.

Gegen das Projekt wurde unter anderem wegen Angst vor Gentrifizierung und steigenden Mietpreisen von Zürcher Bürgerinnen und Bürger das Referendum ergriffen. Dafür hat Christiaanse Verständnis; wahrscheinlich hätte er damals als Student ähnlich reagiert. Gleichzeitig verweist er auf Grenzen der Einflussnahme des Planers: «Wir schlagen bei solchen Projekten immer vor, dass 25 bis 30 Prozent der Baufläche als günstiger Wohnraum ausgewiesen wird», sagt er. «Doch am Ende entscheidet natürlich der Bauherr.» Dass die Europa-Allee trotzdem Elemente einer Open City trägt, zeigt sich für ihn an Orten wie dem Kulturzentrum «Kosmos».

Drang nach Komplexität

Zur Beantwortung der Frage, was er nach seiner Emeritierung am meisten vermissen werde, muss Christiaanse nicht lange überlegen: «Mein Team!» Es sei eines der Erfolgsrezepte der ETH, dass man als Architekturprofessor seine eigene Forschungsgruppe zusammenstellen dürfe. «Als ich in Zürich begann, gab es noch kein einziges Büro für Stadtentwicklung», erinnert er sich. «Heute sind es mindestens fünf und alle Gründer kommen aus meinem Stall.» Er sehe seine ehemaligen Studierenden mittlerweile oft bei Wettbewerben.

Sorgen macht er sich deswegen aber nicht: «Das Schöne am Städtebau ist, dass er von der Erfahrung lebt.» Wie man komplexe Prozesse mit Dutzenden von Planern, Investoren, Politikern und Spezialisten zielführend moderiert, das lerne man nicht im Studium, sondern in jahrelanger Praxis.

An Ruhestand denkt er deshalb nicht; vielmehr folge er seinem Drang nach Komplexität. Derzeit liege bei KCAP eine Anfrage aus China. Das Stadtzentrum der 13-Millionen-Metropole Shenzhen – ein Gebiet von 80 km2 – soll städtebaulich analysiert und darauf basierend ein Masterplan für die kommenden zehn Jahre erarbeitet werden. Ein Städtebauprojekt, grösser als alles, was Christiaanse bisher geplant hatte. «Sie sehen, mit meiner Emeritierung wird sich nicht viel ändern», sagt er und schmunzelt schelmisch.

Die aktuelle Textsammlung «Textbook. Collected Writings on the Built Environment 1990–2018» (Rotterdam: nai010 publishers 2018) vermittelt einen guten Einblick in Kees Christiaanses Denken über Städtebau.

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