Innovative Lehre

Neuartige Lehrformen und wie sie an der ETH Zürich gefördert werden: Darum geht es in der neuen Publikation «Innovative Lehre» der Rektorin. Im einleitenden Gastartikel fordert Manu Kapur, ETH-Professor für Lernwissenschaften, dass die Theorie besser auf die Praxis abzustimmen sei. Hier sein ungekürzter Diskussionsbeitrag.

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Die Lehrformen an der ETH werden immer vielfältiger (Illustration: ETH Zürich / Beatrice Kaufmann)

Transfer von theoretischem Wissen in die berufliche Praxis erleichtern

Universitäre Lehre heisst vor allem eines: Studierende mit dem notwendigen Wissen, den Fertigkeiten und Kompetenzen ausstatten, die ihnen eine erfolgreiche Tätigkeit in ihrer beruflichen Laufbahn ermöglichen. Dies setzt voraus, dass Studierende das, was sie an den Universitäten vermittelt bekommen, auf einfache Art und Weise in die berufliche Praxis übertragen können. Nur zeigen Kognitionswissenschaften und Lernforschung der letzten Jahrzehnte, dass ein solcher Transfer nicht nur schwierig ist, sondern auch selten stattfindet.

Nehmen wir zum Beispiel einen Studenten der Ingenieurwissenschaften, der sich zwar fortgeschrittene Kenntnisse in der Differenzialrechnung angeeignet hat, dem es in der Praxis dann aber trotzdem schwerfällt, fachliche Probleme zu lösen. Oder eine Medizinstudentin, die viel Wissen zur Anatomie paukt, aber bereits kurz nach dem Examen Schwierigkeiten hat, sich daran zu erinnern – ganz zu schweigen, wenn es darum geht, das Wissen in der klinischen Praxis anzuwenden und Diagnosen zu stellen. Oder nehmen wir einen Studenten der Naturwissenschaften, der sich zwar viel Fachwissen aneignet, aber verloren vor der Aufgabe steht, anhand dieses Wissens naturwissenschaftliche Untersuchungen durchzuführen.

Was haben diese Beispiele gemein? Sie zeigen alle, dass kein ausreichender Transfer von theoretischem Wissen in die fachliche Praxis stattfindet. Studierende mögen zwar eine grosse Menge an formellem, inhaltlichem Wissen aus ihren Fachgebieten mitbringen, haben aber oft Schwierigkeiten, dieses Wissen praktisch einzusetzen. Warum ist das so? Gelten unsere Studierenden nicht als überdurchschnittlich begabt? Jedenfalls klagen Experten immer wieder, dass Studierende Zusammenhänge «einfach nicht begreifen» – egal, wie deutlich sie ihnen diese erklären.

Die Broschüre

Innovative Lehre

Die Publikation «Innovative Lehre» stellt neuartige Lehrformen vor und erklärt, wie diese an der ETH Zürich gefördert werden.

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Wissensvermittlung neu denken

Ergebnisse aus der Lernforschung legen nahe, dass ein mangelnder Wissenstransfer in die Praxis weniger ein Problem der Studierenden an sich, sondern vielmehr ihrer Lernerfahrung ist. Für den formellen Unterricht bedeutet dies, dass der Transfer davon abhängt, wie wir unsere Studierenden unterrichten. Wenn wir uns mit Lehrinnovationen beschäftigen, sind wir gut beraten, uns des Problems des Wissenstransfers anzunehmen. Und hier gilt es, die Art und Weise, wie wir Wissen vermitteln, zu überdenken.

Innovativ müssen wir nicht um der Innovation willen sein. Vielmehr gilt es, die Lehre aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse zum Lernverhalten von Menschen weiterzuentwickeln und dabei gleichzeitig die Forschung auf diesem Gebiet voranzubringen. Studien aus dem Bereich der Kognitions- und Lernwissenschaften formulieren mehrere Grundsätze für die Entwicklung effektiver Lehr- und Lernmethoden. Im Folgenden möchte ich mich aber auf ein Hauptprinzip konzentrieren, das bei jeder Lehrinnovation Beachtung verdient. Ich illustriere es anhand eines Gedankenexperimentes.

Stellen Sie sich einen Schreiner vor, der seinen Sohn oder seine Tochter ins Handwerk einführen möchte. Lässt er sein Kind zuerst Mathematik lernen, weil man für das Schreinerhandwerk Arithmetik und Geometrie braucht? Soll sich das Kind zudem erst alle wichtigen Konzepte der Physik aneignen, weil die Kenntnis von Kräften und Gleichgewichten für den Beruf des Schreiners ebenfalls wesentlich ist? Dann könnte man das Ganze mit Materialwissenschaft sowie Lektionen in Kommunikation, Management und Kreativität anreichern.

Und erst, wenn sich der junge Mensch all diese Kenntnisse angeeignet und auch alle Prüfungen bestanden hat, die das Wissen in einem Kontext prüfen, der nur wenig mit dem Fach des Schreiners zu tun hat, erst dann bringt unser Schreiner sein Kind in die Werkstatt und macht es mit der Praxis vertraut. Hoffentlich nicht! Vielmehr wird der Schreiner sein Kind von Anfang an in die Werkstatt mitnehmen und ihm die Arbeit zeigen. Alles Wissen und alle Fähigkeiten, die der Sprössling sich aneignet, sind im praktischen Schreinerhandwerk verankert. So sieht angewendetes Wissen aus.

Verknüpfung von fachlichem Wissen mit praktischer Anwendung

Ein Teil des Problems moderner Ausbildungssysteme ist, dass wir das Fachwissen und dessen Anwendung in der Praxis absichtlich voneinander getrennt haben. Wir haben also selbst ein Problem geschaffen und beklagen uns nun, dass unsere Studierenden Schwierigkeiten haben, den gelernten Stoff in die Praxis zu übertragen. Ich will nicht leichtfertig sein, zeichne aber bewusst ein überspitztes Bild, um meine Botschaft auf den Punkt zu bringen. Damit keine Zweifel aufkommen: Fachwissen und Fachkompetenzen sind wichtig. Sie müssen vermittelt werden – und zwar von Expertinnen und Experten. Das Problem ist jedoch, dass wir dazu neigen, den Stoff aus dem Zusammenhang zu reissen und zu wenige Verbindungen zur fachlichen Praxis aufzeigen.

Es gilt also, das Problem des Wissenstransfers an der Wurzel anzupacken. Dies würde bedeuten, Lehrveranstaltungen und fachliche Praxis miteinander in Einklang zu bringen. Das ist natürlich einfacher gesagt als getan. Aber weshalb sollte man davon ausgehen, Lernproblematiken würden zwingend einfache Lösungen erlauben? Um zu den Beispielen zurückzukehren: Wenn die Konstruktion eine zentrale Aufgabe des Ingenieurwesens ist, sollten ingenieurspezifisches Wissen und Fachkompetenz dort angesiedelt sein. Dies bedeutet nicht, dass alles Wissen im Konstruktionsprozess erworben wird. Aber es bedeutet, dass dieser den Studierenden den Kontext aufzeigt und sie motiviert, sich das Wissen anzueignen. Wenn sich Studierende grösstenteils mit Konstruktionsaufgaben beschäftigen, bleibt das erworbene Wissen auch hängen.

Gleiches gilt für die Medizin. Wenn die Differenzialdiagnostik im medizinischen Alltag eine wichtige Rolle spielt, sollte die Differenzialdiagnose auch eine Kernaktivität in der medizinischen Ausbildung sein. Medizinstudierende sollten sich einen Grossteil des Wissens bei der Diagnosestellung aneignen. Dasselbe gilt für andere Bereiche. Ich habe in den genannten Beispielen die Fachgebiete auf einen wichtigen Aufgabenbereich reduziert, im Wissen darum, dass sich jedes Fachgebiet aus verschiedenen zentralen und peripheren Teilbereichen zusammensetzen dürfte. Wesentlich ist, dass bei der Entwicklung von Lehrinhalten der Prozess des sogenannten «Backward Design» angewendet werden sollte.

Der Prozess des «Backward Design»

Mit «Backward Design» meine ich, dass man bereits am Anfang das Ende vor Augen hat. Wie sieht beispielsweise die berufliche Praxis im Ingenieurwesen aus? Womit beschäftigen sich Ingenieure wirklich? Welche Kenntnisse, Fähigkeiten und Kompetenzen benötigen sie im praktischen Alltag? Wenn wir einen Sinn dafür entwickelt haben, was die praktische Arbeit von Ingenieuren alles beinhaltet, können wir die entsprechenden Lehrveranstaltungen darauf abstimmen. Das Gleiche gilt für andere Disziplinen. Was tun eigentlich Ärzte? Was machen Naturwissenschaftler wirklich? Wie arbeiten Rechtsanwälte? Und so weiter. Wir müssen Curricula erarbeiten, die auf die entsprechende Berufspraxis abgestimmt sind.

Manu Kapur
«Wenn neue Lehrformen explizites und implizites Wissen verknüpfen, wird dies die Entwicklung von Fachkompetenzen künftig positiv beeinflussen.»Manu Kapur, Professor für Lernwissenschaften an der ETH Zürich

Natürlich gibt es Sachzwänge, die eine konsequente Ausrichtung der Lehre auf die fachliche Praxis einschränken werden. Dennoch ist es hilfreich, bei der Entwicklung neuer Studiengänge diese Abstimmung als zentrales Leitprinzip heranzuziehen. Eine typische Entgegnung auf den obigen Vorschlag lautet: «Aber Studierende müssen das Wissen und die Fähigkeiten doch überhaupt erst haben, bevor sie sie anwenden können.» Wer solches sagt, tappt in die Falle der Entkopplung von Fachwissen und Anwendung in der Praxis – und damit genau in die Falle, die es zu vermeiden gilt.

Die Abstimmung der Theorie auf die Praxis bringt zudem weitere Vorteile. Eine Analyse der fachlichen Aufgaben im Arbeitsalltag und insbesondere des dabei angewendeten Wissens dürfte zu einem radikalen Umdenken führen und die Menge an Stoff in unseren Lehrplänen reduzieren. Im Gespräch mit einem Ingenieur oder Arzt werden Sie merken, dass das tatsächlich angewendete Wissen typischerweise nur einen sehr kleinen Teil des in der Ausbildung angeeigneten Wissens ausmacht. Gleiches gilt für andere Fachgebiete. Wenn wir den Fokus vermehrt auf angewendetes Wissen richten, sollten wir bei der Neugestaltung von Curricula Raum gewinnen für Veranstaltungen, die Lernen und Lehren an der Praxis ausrichten.

Explizites und implizites Wissen

Ein zweiter Vorteil der Abstimmung ist die bessere Verknüpfung von explizitem und implizitem Wissen. Explizites Wissen ist Wissen, das externalisiert, dargestellt, festgeschrieben und kommuniziert werden kann. Beispiele dafür sind Gesetze, Prinzipien, Theoreme und Formalismen. Implizites Wissen ist etwas, das sich nicht externalisieren, geschweige denn festschreiben oder kommunizieren lässt. Experten handeln oft intuitiv und können nicht erklären, weshalb sie etwas gedacht oder getan haben, insbesondere dann, wenn sie es im Rahmen ihrer fachlichen Praxis tun. Es handelt sich um etwas, das nicht «vermittelt», sondern nur «erfahren» werden kann – und dennoch ist es für die Entwicklung von Fachkompetenz absolut wesentlich.

Die Forschung zum Thema Fachkompetenz legt nahe, dass Experten nicht nur über umfangreiches explizites Wissen verfügen, sondern auch hochdifferenziertes, situationsbezogenes, implizites Wissen besitzen. Fachkompetenz bedeutet, bei der Problemlösung sowohl explizites als auch implizites Wissen zu nutzen. Angewendetes Wissen ist deshalb eine Verknüpfung von explizitem und implizitem Wissen.

Wenn der Hauptfokus des Unterrichts künftig weiter auf explizitem Wissen liegt, behindert dies die Entwicklung von Fachkompetenz. Wenn jedoch neue Lehrformen explizites und implizites Wissen verknüpfen, wird dies die Entwicklung von Fachkompetenzen künftig positiv beeinflussen. Zusammengefasst kann die Abstimmung von Theorie und Praxis die Verknüpfung von explizitem und implizitem Wissen erleichtern, was wiederum die Wahrscheinlichkeit eines Transfers von theoretischem Wissen in die berufliche Praxis erhöht.

Zur Person

Manu Kapur ist seit 2017 Professor für Lernwissenschaften an der ETH Zürich. Zuvor lehrte und forschte er in Hongkong und Singapur. Das Thema «Lernen durch Scheitern» machte ihn weltweit bekannt.

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