Graben an der Oberfläche

Chiara Gattinonis Spezialität sind die Oberflächeneigenschaften von Materialien. An der ETH-Professur für Materialtheorie erforscht sie Bismuth-Ferrit, einen vielversprechenden neuen Werkstoff.

CHiara Gattinoni
Chiara Gattinoni mit Modellen von Multiferroika. (Bild: Florian Bachmann)

Chiara Gattinonis Welt besteht aus digitalen Daten. Die Materialwissenschaftlerin beschreibt am Computer Eigenschaften von Dingen, die uns tagtäglich umgeben. «Selbst über Vertrautes wie Wasser oder weit verbreitete Werkstoffe wie Schmiermittel wissen wir so gut wie nichts», schildert die 33-jährige ihre Faszination für ihre Forschung. «Uns ist zwar bekannt, dass Schmiermittel funktionieren, aber nicht wie und warum. Genauso wissen wir, dass aus Wasser Eis wird, aber wir verstehen nur sehr wenig davon, wie sich Wasser strukturell in Eis verwandelt.»

Ihr Ziel ist es daher, Werkstoffe und Materialien besser zu verstehen und ihre Funktionsweise zu ergründen. Seit September 2016 forscht Chiara Gattinoni als Postdoktorandin an der ETH-Professur für Materialtheorie unter der Leitung von Nicola Spaldin. Hier beschäftigt sie sich mit der Oberflächenbeschaffenheit von Bismuth-Ferrit, einem der vielversprechendsten der von Spaldin entdeckten Multiferroika.

Multiferroika vereinen in sich so verschiedene Eigenschaften wie Magnetismus und Ferroelektrizität und könnten künftig zum Beispiel in Computerspeichern eingesetzt werden. Im Oktober 2017 erhielt Gattinoni für ihre Arbeit einen Marie Sklodowska-Curie Fellowship, mit der die Europäische Union internationale und sektorübergreifende Forschungen von Wissenschaftlern unterstützt, die ihre Arbeit in einem anderen Land fortsetzen möchten. «Nicola Spaldin hat mich sehr unterstützt und ich konnte schon vor der Zusage für den Grant bei ihr anfangen.»

Das Besondere an Oberfläche von Materialien

«An der Oberfläche stösst ein Material auf ein anderes, was häufig zu chemischen Reaktionen und Veränderungen auf molekularer Ebene führt», erläutert die Wissenschaftlerin. Um diese Veränderungen genau abzubilden, gibt sie am Computer die Eigenschaften der Materialien und Parameter des jeweiligen Experiments ein und simuliert, wie die Materialien miteinander wechselwirken könnten. Als Basis für ihre Berechnungen dienen der Wissenschaftlerin Gesetzmässigkeiten der Quantenmechanik.

«Der Vorteil computergestützter Materialwissenschaften besteht darin, dass wir selbst Reaktionen auf Nanoebene erfassen und beschreiben können. Zudem ist sie oft kostengünstiger als ein Experiment im Labor», sagt Gattinoni. Dennoch kann selbst am Computer ein einzelner Rechenprozess viele Stunden bis hin zu Tagen dauern. Deuten ihre Berechnungen auf neue wissenschaftliche Erkenntnisse hin, überprüft sie diese in Zusammenarbeit mit Kollegen, die das Experiment tatsächlich im Labor durchführen.

Umzug nach Zürich

Gattinoni kam vor eineinhalb Jahren gemeinsam mit ihrem Mann und der heute zwei Jahre alten Tochter Olivia nach Zürich. Ihr Mann, Philip Howes, ist ebenfalls ein Marie Sklodowska-Curie Fellow und an der ETH Zürich an der Professur für Biochemisches Engineering tätig. Damit beide wissenschaftlich arbeiten können, ist ihre Tochter tagsüber in der Krippe auf dem Hönggerberg. Allerdings nur an vier Tagen. «Ich wollte zunächst voll arbeiten, doch möchte ich auch die Kindheit meiner Tochter nicht verpassen», erzählt Gattinoni, die ihr Pensum daher auf 80 Prozent reduzierte.

Die Wissenschaftlerin und ihr Mann kennen sich schon viele Jahre. «Wir haben uns beim Physikstudium in London kennengelernt», erzählt sie. Englands lebendige Hauptstadt gehört zu den Lieblingsstädten der gebürtigen Italienerin, die mit 18 Jahren nach Abschluss ihrer Schule von Mailand dorthin zog. Ihre Eltern und ihr jüngerer Bruder waren bereits ein Jahr zuvor in die Nähe von London gezogen, da der Vater dort eine Stelle als Ingenieur für eine Helikopterfirma erhalten hatte.

Vom Bücherwurm zur Materialwissenschaftlerin

Ursprünglich sah es nicht so aus, als würde die junge Chiara Gattinoni jemals Physik studieren. In Mailand besuchte sie eine humanistische Schule mit Schwerpunkt auf den klassischen Sprachen. Gattinoni beschreibt sich als recht versponnenes Kind, das seine Nase am liebsten in Bücher steckte. Dass sie sich für Physik entschied, verdankt sie ihrer Physiklehrerin. «Sie hat mich ermutigt und meine Begeisterung für Naturwissenschaften geweckt», sagt Gattinoni.

In ihrem Leben hätten immer wieder einzelne Menschen eine wichtige Rolle bei ihren Entscheidungen gespielt. So geht ihr Schritt weg von der Physik hin zur Materialwissenschaft auf Gattinonis Physikprofessor Alessandro De Vita am King’s College in London zurück. «Er hat viele materialwissenschaftliche Themen behandelt, und ich habe entdeckt, dass selbst scheinbar langweilige Materialien hochspannend werden, sobald man sich genauer mit ihnen auseinandersetzt».

Zurzeit hat Gattinoni erst vage Pläne für ihre Zukunft. «Ich kann mir genauso eine Tätigkeit in der Forschung wie in der Industrie vorstellen», sagt sie. Von 2010 bis 2012 hatte sie als Softwarespezialistin für einen Londoner Finanzdienstleister gearbeitet und damit erste Erfahrungen ausserhalb der akademischen Welt gesammelt. «Wichtig ist für mich die Anwendbarkeit meiner Forschung», betont Gattinoni. «Ich bin ein pragmatischer Mensch und möchte, dass meine Arbeit praktisch genutzt werden kann». Bis ihr Fellowship 2020 ausläuft, möchte sie zunächst neben der Forschung die Zeit mit ihrem Mann und ihrer Tochter geniessen und bei Wanderungen die Schweizer Berge entdecken. «Die nächsten Schritte werden sich dann ergeben», sagt sie.

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