Russlands neue Macht

Das «Center for Security Studies» (CSS) beleuchtet in seinen «Strategic Trends» die Geopolitik von morgen. Während Russland in internationalen Angelegenheiten vermehrt Macht ausübt, ziehen sich die USA dezidiert vom globalen Parkett zurück.

Vergrösserte Ansicht: Russische Kriegssschiffe
Russland zeigt auf der Krim militärische Stärke. (Bild: Alexei Pavlishak / Keystone)

Bürgerkrieg in Syrien, neue Regierungen in Nordafrika, Russlands Einmarsch in die Ukraine, das Erstarken der afghanischen Taliban und die amerikanische Kriegsmüdigkeit – was hat das alles zu bedeuten? Genau dieser Frage gehen die Forscher des «Center for Security Studies» (CSS) in ihrem Bericht «Strategic Trends» nach. Zum fünften Mal analysieren sie darin, was die politischen Ereignisse der jüngsten Vergangenheit für die nahe Zukunft bedeuten könnten.

Russlands imperiales Gebaren

Ein ganzes Kapitel ist den neuen geopolitischen Bestrebungen Russlands gewidmet. Russland sei zurück auf der Weltbühne und widersetze sich aktiv dem Westen, schreibt der Autor Jonas Grätz. Das weltpolitische Gewicht Russlands zeigte sich unter anderem im Syrienkonflikt. Russland setzte sich mit seiner Taktik der Nicht-Einmischung in der UNO durch, hielt Bashar al-Assad die Stange und konnte durch die Vermittlung eines Abkommens für die Zerstörung des syrischen Chemiewaffen-Arsenals einen diplomatischen Erfolg einheimsen. Wie Grätz schreibt, nutzt Russland seine zahlreichen kulturellen und ökonomischen Beziehungen zu den Staaten des postsowjetischen Raumes dazu, seine imperiale Identität zu erneuern. Wirtschaftlich starke und eigenständige Staaten würden in diesem Weltbild als Gefahr wahrgenommen.

Mit der militärischen Annektierung der Krim wurden Grätz‘ Ausführungen bereits von den aktuellen Ereignissen überholt. Russland hat sich nach dem Zerfall der Sowjetunion von 1990 eben nicht zu einem «normalen» demokratischen Staat entwickelt, wie man sich dies im Westen erhofft hatte. Vielmehr pflegte Russland laut Grätz in den letzten Jahren eine antiwestliche Aussenpolitik. Diese sei besonders in Zeiten der wirtschaftlichen Stagnation zu einem wichtigen Mittel geworden, um die Aufmerksamkeit von innenpolitischen Problemen abzulenken.

Russland hat mit dem «Putinismus», wie Grätz dessen Politikmodell nennt, beim Verfolgen seiner geopolitischen Aspirationen zwei Trümpfe zur Hand: Es ist mit einem Arsenal von über 1800 stetig erneuerten Nuklearwaffen die einzige echte militärische Gefahr für die USA. Hinzu kommt Russlands Reichtum an fossilen Ressourcen, insbesondere an Erdgas. Dieses bindet das Land an die Europäische Union, schliesslich ist die EU der grösste Kunde für russisches Gas. Dass Putin bereit ist, diese ökonomische Waffe bei Bedarf zu zücken, hat er mit Lieferstops an die Ukraine 2006 und 2009 bereits bewiesen.

USA hat innenpolitische Prioritäten

Russlands geopolitisches Powerplay hat auch mit einer neuen aussenpolitischen Orientierung der USA zu tun. Wie Martin Zapfe in seinem Beitrag aufzeigt, konzentriert sich die Regierung Obama derzeit auf innenpolitische Themen. Obama kennzeichne eine gewisse Aversion gegen «grosse Strategien», wie sie sein Vorgänger George Bush mit seinem «War on Terror» und den Kriegen in Afghanistan und Irak pflegte. Damit seien die USA in eine Phase des «strategischen Pragmatismus» eingetreten. Zapfe ist überzeugt, dass diese andauern wird. Denn sämtliche Entscheide des Präsidenten würden derzeit von drei Parametern bestimmt: den Nachwirkungen der Finanzkrise, der Kriegsmüdigkeit der amerikanischen Bürger (Afghanistan ist mit 13 Jahren der längste Krieg der amerikanischen Geschichte) und der aktuellen Schiefergas- und Schieferöl-Revolution. Laut der Internationalen Energieagentur (IEA) könnten die USA dank Erdöl, das in Schiefergestein gebunden ist und durch Fracking gefördert wird, bereits 2015 zum weltweit grössten Ölproduzenten aufsteigen. Solche Prognosen beflügelten Hoffnungen von einer kommenden Energie-Unabhängigkeit und verstärkten die Ablehnung gegenüber aussenpolitischem Aktivismus, schreibt Zapfe.

Die schwindende geopolitische Übermacht der USA hat noch einen weiteren Grund: Die operativen Vorteile der grössten und teuersten Armee der Welt schmelzen langsam dahin, wie Michael Haas in seinem Beitrag schreibt. Das liegt einerseits an Ausgabenkürzungen beim US-Militär, andererseits am Zugang von neuen aufstrebenden Mächten zu High-Tech-Militärausrüstungen. In China zum Beispiel machen sich die gestiegenen Militärausgaben bereits in Form einer neuen Durchsetzungskraft entlang der eigenen Peripherie bemerkbar. «Das Fundament des von den USA gesponserten globalen Sicherheitssystems zerbröckelt», schreibt Haas.

Befeuert wird dieser Trend durch die «Talibanisierung von Aufständen», wie Prem Mahadevan in seinem Beitrag erklärt. Laut Mahadevan konnten die Taliban seit der US-Intervention ihre militärische, psychologische und ökonomische Durchschlagkraft erhöhen – auch weil heute andere Gruppen ihre Methoden kopieren. Anzeichen für das Scheitern der westlichen Aufstandsbekämpfung findet er im Irak. Ein Jahrzehnt der westlichen Intervention habe zu keinen nachhaltigen Ergebnissen geführt. Der al-Qaida nahestehende Gruppen haben die Kontrolle über einige der wichtigsten irakischen Städte wiedererlangt. Selbstmordattentate in Mali und taktische Innovationen von jihadistischen Gruppen in Syrien sind für den Autor zudem Hinweise dafür, dass die Erfahrungen der Taliban sich über ein globales Netz rapide ausgedehnt haben.

Europäischer Winter nach arabischem Frühling

Nicht nur die USA, sondern auch die Europäische Union hat laut CSS-Bericht an geopolitischem Gewicht verloren. Lisa Watanabe diagnostiziert ein Abflauen der Beziehungen zwischen der EU und seinen südlichen Nachbarn, darunter Algerien, Ägypten, Libyen, Marokko und Tunesien. Es fehle an einer kohärenten strategischen Ausrichtung der EU-Aussenpolitik gegenüber den Staaten Nordafrikas, obschon diese von vitaler Bedeutung für die EU seien; insbesondere in Fragen der Energieversorgung, Sicherheit und Migration. Das Vakuum füllen laut Watanabe derweil andere regionale und über kulturelle und religiöse Gemeinsamkeiten verbundene Mächte, allen voran die Golfstaaten und die Türkei.

Nach der Lektüre der fünf Kapitel der «Strategic Trends 2014» bleibt wenig Zweifel, dass der Westen weiter an geopolitischem Gewicht verlieren wird, während der Osten mit neuem politischen Selbstbewusstsein auftrumpft. Wie ausgeprägt dieser Trend tatsächlich ist, wird nicht zuletzt der Ausgang der aktuellen Krim-Krise zeigen.

Die Publikation «Strategic Trends» (auf Englisch) steht gratis zum Download bereit.

Weltpolitische Herausforderungen für die Schweiz

Die Publikationsreihe «Strategic Trends» bietet jährlich eine Analyse wichtiger weltpolitischer Entwicklungen, wobei Fragen der internationalen Sicherheit im Zentrum stehen. Ergänzend zur Publikation findet heute Freitag die Tagung «Die Schweiz und ihre Nachbarn» statt, mit einem Fokus auf die Schweizer Beziehungen zur EU und zu Russland. Referenten sind unter anderem Nationalrat Andreas Gross, Falk Bomsdorf, ehemaliger Leiter des Moskauer Büros der Friedrich-Naumann-Stiftung, und Bruno Rösli, stellvertretender Chef Sicherheitspolitik beim Eidgenössischen Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport.

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