Mit Manschette und Big Data gegen Dehydrierung

Dehydrierung gehört zu den häufigsten Todesursachen von Kleinkindern in Entwicklungsländern – besonders während den heissen Sommermonaten. Forscher um ETH-Professor Walter Karlen entwickeln deshalb ein mobiles und günstiges Gerät, um Dehydrierung mit Unterstützung von Laien effektiver zu behandeln.

Dehydrierungsmessgerät
Mit speziellen Manschetten lässt sich die Hydrierung eines Kleinkindes permanent überwachen. (Bild: Florian Bachmann / ETH Zürich)

Walter Karlen setzt mit seiner Forschung dort an, wo sie einen Unterschied macht: bei der Dehydrierung infolge von Durchfall. Abgesehen von Lungenentzündung ist Durchfall und die damit einhergehende Austrocknung des Körpers für Kleinkinder unter fünf Jahren die weltweit häufigste Todesursache – noch vor Malaria, HIV oder Tuberkulose. 2013 starben 1,3 Millionen Menschen an Dehydrierung. Betroffen sind vor allem Kinder in Regionen grosser Armut, wo Durchfallinfektionen aufgrund von mangelnder Hygiene und verschmutztem Trinkwasser Alltag sind. «Viele dieser Todesfälle könnten durch Prävention und rechtzeitige Behandlung verhindert werden», sagt der Professor am Labor für Mobile Gesundheitssysteme der ETH Zürich.

Karlen hat zwei Jahre lang in Südafrika gelebt und an der Stellenbosch University in der Nähe von Kapstadt geforscht. Er kennt die Bedingungen im ländlichen Afrika, wo die nächste Klinik mit ausgebildeten Ärzten oft Hunderte von Kilometern entfernt liegt und in Dörfern lediglich spärlich eingerichtete Gesundheitsstationen stehen. Am schlimmsten sind die Zustände in den Sommermonaten, wenn die Bedingungen für die Vermehrung von Bakterien und Viren ideal sind und die Dehydrierung durch die Hitze am schnellsten fortschreitet.

«Bei Verdacht auf Dehydrierung kontrolliert der Arzt bei Kindern die Feuchtigkeit der Augen und die Elastizität der Haut rein visuell. Zudem prüft er mit dem Finger, ob die Schleimhäute im Mund trocken sind», erzählt Karlen. Das brauche jedoch viel Erfahrung und sei subjektiv. «Wir suchten deshalb nach einer Lösung, um Dehydrierung objektiv über längere Zeit messen zu können.» Entstanden ist «Ambica» (Accurate Model for Bio-Composition Analysis), ein System für die Messung des Wassergehalts bei Kleinkindern. Finanziert wurde das Projekt  von der Sawiris Foundation for Social Development über das ETH Engineering for Development-Programm.

Objektive Messungen

Der Prototyp des mobilen Geräts wurde von einem ETH-Masterstudenten in Maschinenbau zusammen mit einer Bachelorstudentin in Industriedesign der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) entwickelt. Dies im Rahmen des gemeinsamen externe SeiteDesign and Technology Lab. Im Juni wurde das Gerät an der ZHdK erstmals ausgestellt: Zwei identische blaue Manschetten für Hand und Fuss mit je zwei eingelassenen Elektroden, die durch ein Kabel verbunden sind. Über die Elektroden wird ein schwacher Stromkreislauf am Körper angelegt und anschliessend der Widerstand bestimmt.

Dehydrierungsmessgerät
Walter Karlen (r.), Jonas Conrad und Linda Schnorf präsentieren ihren Prototypen an der Zürcher Hochschule der Künste. (Bild: Florian Bachmann / ETH Zürich)

Die so gemessene bioelektrische Impedanz erlaubt Rückschlüsse auf die Wasserkonzentration im Körper. Ein Sensor auf der Handmanschette signalisiert durch rote und grüne Striche, ob der Wassergehalt des Körpers zu- oder abnimmt und schlägt Alarm, wenn die Situation kritisch wird – wenn also zum Beispiel eine Infusion nötig wird.

«Die Überwachung geschieht in Echtzeit und ohne dass dafür medizinisches Personal anwesend sein muss», erklärt Karlen. Der Erfolg einer Rehydrierungstherapie könnte so auch von Laien, zum Beispiel den Eltern oder Verwandten eines Kindes, überwacht werden. «Dadurch würde das medizinische Personal in den Stationen entlastet und gleichzeitig die Überlebenschance von dehydrierten Kindern erhöht.»

Ambica ist speziell auf die Begebenheiten in Entwicklungsländern ausgerichtet und intuitiv zu bedienen. Die Manschetten bestehen aus leichtem EVA-Kunststoff, der sich in der Orthopädie durchgesetzt hat und vor Ort verarbeitet werden könnte. Während die Kontakte der Elektroden aus hygienischen Gründen bei jedem Einsatz ersetzt werden müssen, ist das Kabel wiederverwendbar. Das ist wichtig, weil im Medizinbereich Kabel oft ersetzt werden, obschon sie zu den teuersten Bestandteilen eines Messgeräts gehören. Karlen ist überzeugt, dass Ambica in Serie für weniger als hundert Schweizerfranken produziert werden könnte.

Plattform für Datenanalyse

Seine Gruppe forscht derzeit auch an einer Plattform, mit welcher die erhobenen Gesundheitsdaten grossflächig ausgewertet werden können. «Die kleinen Sensoren in den Handmanschetten sind ziemlich intelligent», sagt Karlen. «Sie können zu einem `Internet der medizinischen Dinge` verbunden werden.»

Der Sensor kann Daten visualisieren, speichern, auswerten und an andere Geräte senden. Anhand von Big Data-Analysen könnte so sehr genau bestimmt werden, wann Dehydrationsfälle in welchen Regionen stark zunehmen. Basierend auf diesen Daten könnten Informations- und Hygienekampagnen effektiver organisiert werden. Auch epidemiologische Langzeitstudien sind mit Ambica denkbar.

Karlen hat in den vergangenen Jahren viel Erfahrung mit sogenannten mobile health (mhealth)-Applikationen für Entwicklungsländer gewonnen. Aktuell führt er in Peru zusammen mit dem Tropeninstitut TPH aus Basel eine Studie durch zum Einsatz von Smartphones für die Diagnose von Lungenentzündungen (siehe auch «Eine App, die Kinderleben rettet»). Dafür sammelt er weiterhin ausgemusterte Smartphones.

Fehlender Markt

Ambica ist derzeit noch ein Prototyp. Das Gerät an der ZHdK-Ausstellung war noch nicht einsatzbereit, weil der Sensor in entsprechender Grösse fehlte. Getestet wurden die Manschetten mit einem grösseren, externen Sensor. Doch bereits im Dezember soll eine erste Feldstudie stattfinden. Ambica soll in der Provinz Western Cape in Südafrika in der heissen Saison über drei bis vier Monate getestet werden.

Doch selbst wenn die Studie positiv verläuft, wird es noch Jahre dauern, bevor Ambica grossflächig zum Einsatz kommt. «Es wird sehr schwierig, Hersteller für das Gerät zu finden, weil ein lukrativer Markt dafür fehlt», sagt Karlen.

Dehydrierung bei Kleinkindern ist im Westen eine seltene Todesursache. Mit zunehmenden Hitzewellen infolge des Klimawandels könnte ein Dehydrierungs-Warnsystem aber auch in nördlichen Ländern für ältere, vergessliche Menschen einen lebensrettenden Nutzen bringen. Eine solche Anwendung sieht Karlen aber erst, nachdem sich das System in Entwicklungsländern etabliert hat, wo der Bedarf und Nutzen am grössten ist.

Karlen hofft aktuell auf grosse Stiftungen oder Nichtregierungsorganisationen, die im Rahmen ihres humanitären Engagements für die Entwicklungskosten bis zur Produktionsreife in die Bresche springen. Das könnte sich doppelt lohnen: «Im Idealfall könnten die Geräte vor Ort produziert werden. So könnten wir nicht nur Leben retten, sondern auch dringend benötigte Jobs schaffen.»

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