Freier Lauf für Fliessgewässer

Die Sedimente, die Bäche und Flüsse transportieren, spielen eine wichtige Rolle für die Lebensräume von Flusslandschaften. Doch Verbauungen und Regulation stören den Geschiebehaushalt unserer Fliessgewässer stark – die Lebensvielfalt leidet. Heute versucht man, dem Geschiebe wieder mehr freien Lauf zu lassen, um die Flusslandschaften zu revitalisieren.

Vergrösserte Ansicht: Linthkanal
Kanalisiert und begradigt: Die Linth bei Reichenburg, Richtung Süden, im Hintergrund der Mürtschenstock. (Bild: wikipedia / Parpan05)

Die Flusslandschaften der Schweiz sind durch die Gletscher der Eiszeit geprägt. Diese gaben bei ihrem Rückzug den Raum frei für Seen, Flüsse und Bäche, welche die Landschaft fortan gestalteten: Vornehmlich in höheren Lagen und bei steilerem Gefälle spülten die Fliessgewässer V-förmige Täler aus und kanalisierten so ihren Verlauf selbst. Mit abnehmendem Gefälle verringert  sich die Transportkapazität, und das zuvor erodierte Sediment lagerte sich ab. Dieser Vorgang ist in unseren Tälern durch die seitlichen Schwemmkegel der Zuflüsse anschaulich dokumentiert. Je nach Gefälle, Talbreite und Geschiebeaufkommen mäandert das Gewässer weiter oder verzweigt sich in mehrere Arme (siehe nachfolgende Abbildung). Diese Prozesse sind dynamisch. Dabei verändern die anwachsenden Schwemmkegel, die Auenwälder oder grosse Hochwasser die Gestalt der Talsohle und so den Flusslauf immer wieder neu.

Vergrösserte Ansicht: Historische Karte des Rheins
Römerkarte des  Alpenrheins bei Lustenau aus dem Jahre 1769 (Illustration: Hans Conrad Römer / Staatsarchiv St. Gallen)

Definiert, kanalisiert und reguliert

Die dynamischen Flusslandschaften bildeten ausgedehnte Lebensräume für Pflanzen, Pilze und Tiere und wurden mit der Zeit auch durch den Menschen besiedelt. Im Gegensatz zur sumpfigen Talsohle boten die Schwemmkegel geeignetes Bauland und schützten vor Hochwasser. Mit vorerst einfachen Verbauungen der Ufer gewannen die Siedler dem Fluss urbares Land ab – der Erfolg war jedoch häufig bescheiden und wurde mit dem nächsten Hochwasser zunichte gemacht. Als im Zuge der Industrialisierung die entsprechenden technischen Mittel aufkamen, verbauten und nutzten wir Menschen unsere grossen Talflüsse immer stärker. Die Flussläufe wurden begradigt und verlegt, das Umland entwässert und durch Dämme vor Hochwassern geschützt. Dazu schätzten Ingenieure das erforderliche Abflussvermögen unter Berücksichtigung möglicher Hochwasser ab und berechneten die Querschnittsgeometrie sowie das notwendige Gefälle. Um die Hochwassersicherheit zu gewährleisten  galt es zu verhindern, dass das Gerinne durch herangeschwemmtes Geschiebe aus dem Einzugsgebiet unkontrolliert verlandet. Daher baute man bei grösseren Zubringern Geschiebesammler und entnahm Kies teilweise direkt aus dem Fluss. Die so regulierten Gewässer boten sich zur Stromproduktion durch Flusskraftwerke an. Der Raum für die Fliessgewässer wurde somit neu definiert, und der Nutzen für den Menschen war aus damaliger Sicht maximiert.

Gestörter Geschiebehaushalt

Rhone
Rhônetal mit Mont Velan (1952). (ETH Zürich / Werner Friedli)

Gegen Ende des letzten Jahrhunderts erkannte man, dass sich neben der Verschmutzung auch die baulichen Eingriffe äusserst negativ auf Flora und Fauna unserer Fliessgewässer auswirken. Der ökologische Zustand – Biodiversität und Gewässerstruktur – ist in vielen Schweizer Fliessgewässern heute stark beeinträchtigt; die Lebensräume leiden. Wegen der Regulierung und den verbauten Zubringern fehlt den Bächen und Flüssen das Kies: es hat zu wenig Geschiebe. Dieses Geschiebedefizit bewirkt, dass sich die Flusssohle im Laufe der Zeit weniger stark verändert, die lokale Vielfalt hinsichtlich Fliesstiefe und –geschwindigkeit im Gewässer nimmt ab. Dies widerspiegelt sich in einer reduzierten Lebensraumvielfalt.  So gibt es beispielsweise immer weniger Laichplätze für kieslaichende Fische. Auenwälder, die zu den artenreichsten Lebensräumen der Schweiz gehören, wurden durch die Uferverbauung und Eintiefung der Sohle vom Fliessgewässer abgekoppelt. Aber auch für den Menschen wichtige Ökosystemdienstleistungen wie sauberes Trinkwasser werden beeinträchtigt.

Zurückbauen, wiederherstellen und wiederbeleben

Um dieser Situation zu begegnen erfolgten in den vergangen 30 Jahren mehrere Gesetzesrevisionen; seit 2011 ist das revidierte Gewässerschutzgesetz in Kraft. Es sieht die Sicherung des notwendigen Raums für die Gewässerfunktionen sowie die Revitalisierung von 4‘000 km Fliessgewässer in den kommenden 80 Jahren vor. Zudem sollen bis 2030 die negativen Auswirkungen der Wasserkraft behoben werden, so etwa das beeinträchtigte Geschieberegime und die verhinderte Fischwanderung, aber auch die Einflüsse durch Schwall und Sunk.

Bereits vor über 30 Jahren begann man mit verschiedensten Revitalisierungsmassnahmen, und laufend kommen neue Ansätze hinzu. Die Wiederherstellung der Geschiebekontinuität und die Aufwertung der Lebensräume in unseren Gewässern sind das zentrale Thema des laufenden Forschungsprojekts «Geschiebe- und Habitatsdynamik», einer transdisziplinären Forschungsinitiative von vier Institutionen des ETH-Bereichs (Eawag, LCH-EPFL, VAW-ETH Zürich, WSL) und des Bundesamts für Umwelt.

Vergrösserte Ansicht: Aufweitung der Thur
Entwicklung der Flussaufweitung an der Thur bei Niederneunforn zwischen 2005 und 2011. (Bilder: swisstopo)

Bei allen Massnahmen zur Verbesserung der heutigen Situation stellt sich die Frage nach dem angestrebten Zustand. Führt eine durch Geschiebesanierung neu herbeigeführte Flussmorphologie lokal zu aufgewerteten und effektiv wiederbelebten Lebensräumen? Indem wir die vorhandenen Tier- und Pflanzenarten, die Flussmorphologie und das Geschieberegime an verschiedenen Flussabschnitten wiederholt erheben, können wir den Grad der Beeinträchtigung resp. die Naturnähe abschätzen. Dabei spielen Dynamik und Vielfalt der ursprünglichen Flusslandschaft eine wichtige Rolle; es gilt aber auch, unwiderrufliche Veränderungen unserer intensiv genutzten Landschaft als Rahmenbedingung zu berücksichtigen. Die Aufgabe, unsere Fliessgewässer so zu unterhalten, dass sie uns vor Hochwasser schützen und zugleich bestmögliche Lebens- und Erholungsräume bieten, bleibt also auch zukünftig äusserst anspruchsvoll.

David Vetsch hat diesen Beitrag zusammen mit Dr. Christine Weber (Eawag) und Prof. Christoph Scheidegger (WSL) geschrieben.

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David Vetsch
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