Wälder statt Kathedralen

Notre Dame soll nicht wiederaufgebaut werden, sagen Guillaume Habert und Alice Hertzog. In Zeiten des Klimawandels und in der gegenwärtigen religiösen Landschaft habe der Wiederaufbau keine Priorität.

Guillaume Habert und Alice Hertzog

Ein schwerer Geruch von alter Eiche lag in der Luft, als Notre Dame brannte, wurde berichtet. Ein grosser Unterschied zum Gestank von brennendem Isolationsmaterial und Kunststoff bei vielen Wohnungsbränden in der französischen Hauptstadt. Das jahrhundertealte Holzdach der Kathedrale fing schnell Feuer, und die Flammen drohten zeitweilig, das berühmte Pariser Denkmal ganz zu zerstören.

Notre Dame brennt
Notre Dame brennt am 15. April 2019. Wie sollen wir auf die Zerstörung reagieren? (Bild: Flickr / Olivier Mabelly / CC BY-NC 2.0)

Im Morgengrauen lagen grosse Teile des Gebäudes in Glut und Asche, die Glockentürme waren noch intakt, und ein Plan für den Wiederaufbau lag bereits auf dem Tisch. Der französische Präsident versprach, die Kathedrale «innerhalb von fünf Jahren noch schöner als zuvor» wiederaufzubauen1. Es wurde ein Architekturwettbewerb für die Turmspitze ausgeschrieben und ein Fonds mit Hunderten von Millionen Euro, die von französischen Tycoons und internationalen Gebern stammen, zügig eingerichtet.

Die Kirchenbänke haben sich geleert

Doch wenn ein siebenhundert Jahre altes Gebäude in Flammen aufgeht, ist das ein Anlass, über das architektonische Erbe nachzudenken. Die Glasmalereien, das Zinkdach, die Turmspitze aus dem 19. Jahrhundert mit 200 Tonnen Blei sind zwar gut dokumentiert, und die finanziellen Mittel für den Wiederaufbau wären vorhanden. Aber gibt es dafür einen Bedarf? Ist es nachhaltig und wünschenswert, die mächtige Holzkonstruktion von Notre Dame wiederaufzubauen? Bevor wir den uns an den Wiederaufbau machen, sollten wir darüber nachdenken, wie wir den Bedürfnissen künftiger Generationen am besten gerecht werden.

Notre Dame wurde für die Ewigkeit gebaut, um Gott zu feiern, Heilige zu ehren und Könige zu krönen. Aber Frankreich, das einst als «fille aînée» der römisch-katholischen Kirche galt, ist heute eine durch und durch weltliche Republik, die homosexuelle Ehen zulässt und eine immer kleiner werdende Zahl praktizierender Katholiken hat. Angesichts des demographischen Entwicklung der katholischen Kirche wäre es sinnvoller, die heutigen Kathedralen nicht in Frankreich, sondern in Lateinamerika zu bauen, wo derzeit über 80 Prozent der Bevölkerung katholisch sind, oder in Subsahara-Afrika, wo es die höchste Wachstumsprognose für den Katholizismus gibt2.

Nachteilige Klimaauswirkungen

Ebenso wie die religiöse Landschaft haben sich auch die ökologischen Notwendigkeiten drastisch gewandelt. Diese müssen wir bei aktuellen städtebaulichen Entscheiden berücksichtigen. Der jüngste IPCC-Bericht warnt, dass wir unsere Bauweisen innerhalb der nächsten zehn Jahre massiv verändern müssen. Damit es uns gelingt, eine klimaneutrale Gesellschaft aufzubauen, müssen wir uns von vielen Ansätzen, die uns die industrielle Revolution in den vergangenen 200 Jahren gebracht hat, verabschieden. Und wenn wir an das Vermächtnis denken, das wir zukünftigen Generationen hinterlassen wollen, könnte die Lösung für einmal auch darin bestehen, nicht für die Ewigkeit zu bauen, sondern gar nicht zu bauen, die für den Bau notwendigen Metalle nicht zu verbrauchen und die entsprechenden Bäume im Wald stehen zu lassen.

Die Decke von Notre-Dame wurde von riesigen Holzbalken aus dem 13. Jahrhundert zusammengehalten. Für den Bau wurden damals über 21 Hektar Wald abgeholzt. Am Morgen nach dem Brand kündigte die französische Versicherungsgesellschaft Groupama an, 1300 hundertjährige Eichen aus ihrem Privatwald in der Normandie für den Wiederaufbau des Dachstuhls zu spenden.

Holzbau scheint zwar auf den ersten Blick eine nachhaltige und klimafreundliche Lösung zu sein, bei der Kohlenstoff in Gebäuden gespeichert wird. Dies ist aber nur dann klimarelevant, wenn die Lebensdauer des Holzes im Gebäude länger ist als sie in der Natur wäre.  Wenn wir heute hundertjährige Eichen fällen, die in der Natur noch lange überlebt hätten, ist dies nicht der Fall. Selbst wenn man den gerodeten Eichenwald wieder aufforstet, bräuchten die Jungbäume Jahrzehnte, bis sie nennenswerte Mengen CO2 aus der Luft aufnehmen und speichern. Beim Trocknen und Schneiden dieses Holzes wird viel eher CO2 in die Atmosphäre freigesetzt.

Auch bei der Herstellung von Zink und Blei, falls dies für den Wiederaufbau von Dach und Turm verwendet wird, kommt es zu grossen Kohlenstoffemissionen. Ausserdem ist die mit Wasserverschmutzung verbunden und diese Rohstoffe werden weiter verknappt. Ist dies das Vermächtnis, das wir hinterlassen wollen?

«Was wollen wir als Vermächtnis hinterlassen? Kathedralen oder ein Klima und ein funktionierendes Ökosystem, das es den nachfolgenden Generationen ermöglicht aufzublühen?»Guillaume Habert und Alice Hertzog

In ihrer Rede vor dem Europäischen Parlament am Tag nach dem Brand forderte die Klimaaktivistin Greta Thunberg die Parlamentarier auf, das langfristige Denken der frühen Kathedralenbauer auf den Klimawandel anzuwenden. "Es braucht eine weitreichende Vision, Mut und eine heftige Entschlossenheit, um jetzt zu handeln und die Grundlagen zu legen, auch wenn wir vielleicht noch nicht im Detail wissen, wie wir die Decke gestalten sollen," sagte sie3.

Der Wiederaufbau von Notre Dame würde bedeuten, das kulturelle Erbe vergangener Generationen zu replizieren. Aber was wollen wir als Vermächtnis für die nächsten siebenhundert Jahre hinterlassen? Kathedralen oder ein Klima und ein funktionierendes Ökosystem, das es den nachfolgenden Generationen ermöglicht aufzublühen?

Architekten, Designer und Ingenieure sind gut gerüstet, um elegante Lösungen für die Zukunft von Notre Dame entwickeln, die weder den Klimawandel verstärken noch die Lebensqualität zukünftiger Generationen gefährden. Wenn weniger mehr ist, dann ist nichts vielleicht alles4. Die nächsten zehn Jahre sind entscheidend, um das Leben auf der Erde für die kommenden Jahrhunderte zu gestalten. Unnötige Emissionen zu vermeiden, ist der geeignetste Beitrag für unsere Zukunft. Denn wer weiss, in siebenhundert Jahren könnten unsere Wälder die Kathedralen sein der dann auf der Erde lebenden Menschen.

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