Mehr Durchblick dank Augmented Reality

Operationen am Auge sind Präzisionsarbeit. Mit einer neuen Simulationsplattform, basierend auf Augmented Reality, können Ärzte Eingriffe dreidimensional an einem virtuellen Modell üben.

Micromanipulation
Ein Proband testet das intelligente Tutorsystem für mikrochirurgische Eingriffe im Auge. Die Brille zeigt ihm ein vielfach vergrössertes Modell. (Fotomontage: ETH Zürich / Sandro Ropelato)

Wer Marino Menozzi in seinem Büro in Zürich besucht, wird zunächst von einem Auge, so gross wie ein Medizinball, empfangen. Aus Styropor gefertigt, liegt es auf der Schrankablage hinter Menozzis Pult. Was es damit auf sich hat, erfährt man im Labor nebenan. Dort liegt vor einem Computerbildschirm ein Holzbrett, auf dem zwei kleine Kameras im rechten Winkel zueinander befestigt sind. Daneben ein Stift mit einer winzigen Pinzette und eine bullige Brille, die ein wenig an Robocop erinnert. «Was Sie hier sehen, ist eine Simulationsplattform für Operationen am Auge», erklärt Menozzi, Privatdozent an der Professur für Consumer Behavior.

Seit Monaten besuchen angehende Augenärzte das Labor von Menozzi, um ihre Handfertigkeit für die Operation der epiretinalen Gliose (auch Macular Pucker genannt) zu üben. Eine solche OP wird nötig, wenn die Bindegewebemembran um den Glaskörper des Auges trüb wird und Zug auf die Netzhaut ausübt, der zu Rissen führen kann. Die Folge: ein stark eingeschränktes Sehvermögen.

Diffizile Operation

Während der Operation wird zuerst der Glaskörper, also das durchsichtige Gel im hinteren Teil des Auges, entfernt. Danach wird über eine Kanüle von weniger als einem Millimeter Durchmesser die hauchdünne Membran mit einer sehr feinen Pinzette von der Netzhaut abgezogen. Wenn alles gut läuft, hat der Patient wenige Wochen später wieder eine klare Sicht. Eine solche OP braucht viel Fingerspitzengefühl und Erfahrung. Angehende Ärzte assistieren deshalb oft jahrelang und üben die Operation zusätzlich an Plastikmodellen und am lebendigen Tier. Letzteres ist aufwändig und wirft ethische Fragen auf, zudem können schwierige Bewegungen nicht wiederholt geübt werden.

Hier kommt die Robocop-Brille in Menozzis Labor ins Spiel: Geübt wird virtuell und mit Hilfe von Augmented Reality. Wer sich die Brille überstreift, vor dem erscheint schwebend in der Luft ein achtfach vergrössertes, virtuelles Auge – genau die Vergrösserung, mit der Chirurgen normalerweise unter dem Mikroskop operieren. Anders als bei Virtual Reality (VR), bei der der Nutzer die Umwelt gar nicht mehr wahrnimmt, wird bei Augmented Reality (AR) das reelle Bild lediglich mit zusätzlichen virtuellen Elementen angereichert. In diesem Fall sind dies das vergrösserte Auge sowie im Sichtfeld auftauchende Anweisungen für die OP. Zum Beispiel Pfeile, Linien und Kreise, die den Übenden einen Idealpfad anzeigen, den sie mit der Pinzette abfahren sollen. Rund um das vergrösserte Auge erscheint die reelle Umgebung, weshalb die Probanden auch ihre Hände und die Position des Operationsinstruments sehen können.

Da jede Handbewegung durch die Minikameras auf dem Brett aufgezeichnet und an die Brille weitergeleitet wird, kann der Computer genau berechnen, wie genau ein Proband gearbeitet hat. Zudem können angehende Chirurgen virtuell ein «Intelligent Tutoring» durchlaufen. Sprich, ein Algorithmus berechnet, welche Etappen der Operation erfolgreich durchgeführt wurden und welche Mühe bereiteten. Darauf basierend wird eine Übungssequenz zusammengestellt, die den maximalen Lerneffekt verspricht. «Wir hoffen, dass wir dadurch den Trainingseffekt verbessern können, so dass angehende Ärzte schneller für OPs bereit sind und weniger Fehler machen», sagt Menozzi.

Fehlende Haptik und Verzögerung

Derzeit werden der Nutzen und die Akzeptanz der Simulation im Rahmen dreier Masterarbeiten und mit 23 angehenden Ärztinnen und Ärzten getestet. Gian-Luca Köchli ist einer von ihnen. Er ist im letzten Jahr seines Medizinstudiums und hat den AR-Simulator bereits sechsmal getestet. Sein Fazit: «Die Simulation ist sehr empfindlich und genau; ich war erstaunt, wie realistisch das bereits wirkt.» Störend fand er hingegen, dass die Bilder auf der Brille leicht verzögert zur tatsächlichen Bewegung erscheinen. Zudem fehle bisher noch eine realistische Haptik. Grundsätzlich findet er den Ansatz, OPs am Simulator zu üben, aber vielversprechend, bevor man damit an den Menschen gehe.

Menozzi sieht derzeit drei grosse Herausforderungen: Da die virtuellen Bilder, abhängig von den Handbewegungen, zuerst von einem Computer berechnet und per WLAN auf die Brille geschickt werden, erscheinen diese, wie erwähnt, 20 bis 30 Millisekunden verzögert. Damit sei die Latenzzeit noch zu hoch, stellt Menozzi fest. Zweite Herausforderung: Manche Probanden reagieren auf bestimmte Simulationen mit Schwindel oder sogar Erbrechen. Dritte Herausforderung ist das Gefühl von Präsenz während der Simulation. «Sie ist für uns ein wichtiges Indiz dafür, wie gut die Ergebnisse während einer Simulation auf die Realität übertragbar sind», so Menozzi. Derzeit ist zum Beispiel das Sichtfeld noch stark eingeschränkt. Während das natürliche Sichtfeld einen Winkel von etwa 200° abdeckt, sind es mit der Mixed-Reality-Brille lediglich 35°. Für einen realistischen Eindruck wären 120° nötig. Akustik, Geruch und Haptik könnten die Präsenz ebenfalls verstärken.

«App Store» für Simulationen

Sandro Ropelato, der den Simulator im Rahmen seiner Doktorarbeit entwickelt, ist überzeugt, dass das Potenzial der Technologie weit über die Augenchirurgie hinausreicht. Auch andere knifflige und risikoreiche Operationen könnten künftig vorgängig für die AR-Simulation modelliert werden, so dass Ärzte und Ärztinnen sämtliche Handgriffe im virtuellen Modell einüben könnten. Weitere Einsatzgebiete sieht er in der Elektronik, zum Beispiel bei der Präparation von Silizium-Wafern für Mikrochips.

Ropelatos längerfristige Vision: Eine Art «App Store» mit unterschiedlichen Simulationen für sein Hardware-Setup, bestehend aus Hololens, Mikrokameras und Computer. Die 3D-Simulation basiert nämlich auf «Unity», eigentlich eine Gaming-Software, die sich jedoch für allerlei AR- und VR-Anwendungen durchgesetzt hat. Deshalb sind übers Web tausende Softwareelemente verfügbar, die lediglich für die eigenen Anwendungen adaptiert werden müssen. Ropelato und Menozzi planen mittelfristig einen Spin-off zur Vermarktung der Simulationsplattform. «Davor müssen wir jedoch noch viel von den Nutzern lernen», betont Menozzi. «Ihre Akzeptanz ist für unseren Erfolg entscheidend.»

Dieser Text ist in der aktuellen Ausgabe des ETH-Magazins Globe erschienen.

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