«Ich erlebte eine sehr spannende Zeit an der ETH»

Nach 29 Jahren wird Paul Embrechts am ETH-Departement Mathematik emeritiert. Wie hat er die Zeit an der ETH Zürich erlebt und was wird er nach seiner Emeritierung unternehmen? «ETH-News» stellt den Forscher vor, der sein Leben den Risiken gewidmet hat.

Vergrösserte Ansicht: Paul Embrechts prägte die Entwicklung des Risikomanagements durch seine Forschung massgeblich mit. (Bild: Alessandro Della Bella / ETH Zürich)
Paul Embrechts prägte die Entwicklung des Risikomanagements durch seine Forschung massgeblich mit. (Bild: Alessandro Della Bella / ETH Zürich)

In seinem Büro sticht eines ins Auge: Die vielen Bücher. «Ich lese sehr gern», sagt Paul Embrechts. Einige Bücher hat er selbst verfasst; sie gelten als Standardwerke. Er ist stolz darauf, dass ihn die Federal Reserve Bank of Boston (Fed) einlud, um mit Hilfe seines Buches «Quantitative Risk Management» 15 Fed-Entscheidungsträgern Unterricht zu erteilen.

Embrechts, ein zugänglicher Mensch, brachte so sein Know-how in die Praxis ein. Der Bezug zur Praxis war ihm immer wichtig: «Es ist nicht selbstverständlich, dass man als Wissenschafter von der Praxis so ernst genommen wird», sagt der bodenständige Mathematiker, der vor knapp 29 Jahren aus Antwerpen an die ETH kam. Von dieser Bodenhaftung profitierten unzählige ETH-Absolventinnen und Absolventen – aber auch die Wirtschaft, denn rund 70 Prozent der Aktuare in der Schweiz bilde die ETH aus, sagt Embrechts zufrieden.

Vernetzung von Wissenschaft und Praxis

Embrechts hat mit dem 1994 gegründeten RiskLab ein Gefäss geschaffen, das die Forschung mit der Praxis institutionell vernetzt. Er habe das RiskLab mit Hans-Jakob Lüthi vom Institut für Operations Research aufgrund zunehmender Anfragen von Banken gegründet. Diese hätten Unterstützung im Risikomanagement gesucht. Embrechts betont: «Das RiskLab ist vorwettbewerblich. Wir machen kein Consulting. Schliesslich sind wir immer noch Mathematiker und machen Grundlagenforschung.»

Mitte 1994 habe eine Tagung mit Vertretern des Risk Managements von Banken, der Bank für internationalen Zahlungsausgleich BIS und ETH-Angehörigen stattgefunden. «Es ging darum, dass die Banken sagten, wo sie Probleme sehen und wir von der ETH uns äusserten, wo wir Beiträge leisten können», so Embrechts. Später seien auch Versicherer dazu gekommen. Das RiskLab sei weltweit ein Novum gewesen und kopiert worden.

«Es hat hier an der ETH geklappt wegen der Konzentration an Wissen und Praxis in relativ kleiner geographischer Umgebung», ist Embrechts überzeugt.«Das RiskLab war sowohl wissenschaftlich interessant für die ETH als auch praxisrelevant.» Er erwähnt auch die menschliche Komponente: Für viele Mitarbeiter sei das RiskLab wie ein Zuhause, wo man gerne auch als Ehemaliger vorbei schaue.

Der gebürtige Belgier und Schweizer Bürger, der als Erster seiner Familie studierte, ist ein offener Mensch, der sich für Leute interessiert und gern Besuch empfängt. Gleichzeitig hielt Embrechts, der nie eine eigene Firma gründete, eine gewisse Distanz zur Privatwirtschaft aufrecht. Die Vernetzung zwischen Wissenschaft und Praxis lebte er als Verwaltungsrat der Bank Julius Bär und von Swiss Life.

War sein akademischer Rat dort gefragt? «Ja, ich konnte mich einbringen und Hilfe von akademischer Seite geben», sagt der Risikoforscher. «Die Akzeptanz der Wirtschaft gegenüber der ETH ist sehr gross und ich habe so auch viel für die Forschung gelernt», fügt er hinzu.

Prägender Risikoforscher

Embrechts prägte die Entwicklung des Risikomanagements durch seine Forschung massgeblich mit. Aber er verlor sich trotz oder gerade wegen seines Wissens nicht in den Formeln und warnte stets davor, sich blind auf eine Risikokennzahl zu verlassen. So begleitete er das ab 1994 in der Finanzindustrie zunehmend verwendete Risikomass «Value at Risk» (VaR) sehr kritisch. Denn der VaR sage nichts über die Höhe der Verluste aus, wenn sich der Markt nicht normal verhalte – also in Extremfällen wie bei der Finanzkrise. Dazu brauche es eine Risikokennzahl wie den «Expected shortfall», an deren Entwicklung Embrechts beteiligt war.

Hat er die Finanzkrise kommen sehen? «Wir haben die Finanzkrise so nicht prognostiziert», gibt Embrechts zu, «aber wir haben immer gewarnt, dass die Eigenkapitalvorschriften für Banken – Basel II – im Extremfall nicht genügen.» Im Mai 2001 veröffentlichte Embrechts mit Kollegen von der London School of Economics ein Paper, in dem sie warnten, dass die verwendeten Risikomasse die Wirtschaft im Krisenfall destabilisieren könnten. Es seien zudem mit Basel II nur einzelne Banken reglementiert worden, nicht aber das Bankensystem als solches.

Die Autoren kritisierten auch den hohen Einfluss der Ratingagenturen. Die Finanzkrise – die Praxis – zeigte, dass sie mit dieser Kritik richtig lagen. Das war «eines meiner wichtigsten Papers», sagt der Risikoforscher. Für Embrechts ist klar: Am Ende seien für ein gutes Risikomanagement die Strukturen und die Persönlichkeit der Mitarbeiter entscheidend, nicht eine Risikokennzahl.

Risiken umfassend verstehen

Neben dem RiskLab hat Embrechts eine zweite Plattform mitgegründet, die dem Austausch von Wissen dient: Das interdisziplinär ausgerichtete «Risk Center». Dort diskutieren Spezialisten gebietsübergreifend Probleme. «Es ist wichtig, dass die ETH dies unterstützt», sagt der Risikoexperte, denn «die Gesellschaft kann die Probleme nur mit interdisziplinärer Zusammenarbeit lösen.»

Embrechts umfassendes Verständnis von Risiken und sein Interesse an Extremereignissen zeigt sich auch am Thema seiner Abschiedsvorlesung: Dort befasst er sich mit der Überschwemmungskatastrophe in den Niederlanden im Jahr 1953. Die danach folgende Konstruktion von Deichen unter Einbezug verschiedenster Experten hält Embrechts für eine gewaltige Leistung des Risikomanagements. Er wird in seiner Abschiedsvorlesung auch kurz auf den unberechenbaren Charakter von Risiken zu sprechen kommen, den er selbst erlebte, als er eine Einladung zu einem Vortrag im North Tower am 9/11 absagte (vgl. Interview mit Paul Embrechts im externe SeiteYouTube-Kanal des Departements Mathematik).

Mehr Zeit für die Familie

Was wird er nach seiner Emeritierung unternehmen? «Ich werde mehr wandern mit meiner Frau und mehr Zeit mit meinen Enkelkindern verbringen», sagt der Vater dreier Kinder. Seine Frau habe sich für seinen Beruf geopfert; nun könne er etwas zurückgeben. Auch hat er nun Zeit, eine Konzertwoche in Italien zu besuchen, die von der Pianistin Angela Hewitt veranstaltet wird, mit der Embrechts und seine Frau befreundet sind.

Last but not least wird der passionierte Leser ein Buch schreiben über das Leben mit Risiken. Ziel ist, das Verständnis in der Öffentlichkeit für das Thema zu erhöhen. Langweilig wird es ihm also nicht werden; die spannende Zeit an der ETH, der er sehr verbunden ist, wird er aber wohl doch ein wenig vermissen.

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Interview mit Paul Embrechts. (Departement Mathematik / YouTube)
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