Den gesamten Alterungsprozess im Blick

Medizinforscher haben oft nur eine Krankheit im Auge. Weil alte Menschen jedoch häufig an mehreren Krankheiten gleichzeitig leiden, sei ein Umdenken nötig, schreibt Ralph Müller.

Ralph Müller

Wir Menschen werden immer älter. Interessanterweise sagen Statistiker jedoch nur eine Zunahme der Lebensjahre voraus, nicht jedoch der Jahre, während der Frauen und Männer gesund bleiben. Diese «gesunden Jahre» bleiben mehr oder weniger konstant1. Das heisst, Menschen leben länger und sind dafür einfach länger krank – mit absehbar negativen Folgen für die Finanzierung unseres Gesundheitssystems.

Es ist Zeit für ein Umdenken. Zwar wird schon jetzt viel Forschung für altersbedingte Leiden wie Herzkreislauferkrankungen, Osteoporose oder neurodegenerative Krankheiten betrieben. Derzeit versucht die Wissenschaft aber vor allem zu verstehen, wie einzelne Krankheiten entstehen und wie diese dann behandelt werden können. Der Tatsache, dass gerade viele alte Leute an mehreren Krankheiten gleichzeitig leiden, schenkt die Forschung heute zu wenig Beachtung. Vielmehr sollte es in Zukunft ein Forschungsziel werden, gemeinsame Ursachen von altersbedingten Krankheiten zu suchen und somit die Entstehung von Multimorbiditäten zu bekämpfen.

Dies schlage ich gemeinsam mit 12 Kollegen, mit denen ich im Rahmen eines Cost-Projekts2 der europäischen Wissenschaftsstiftung zusammengearbeitet habe, in einem heute erschienenen Kommentar in der Fachzeitschrift externe SeiteNature vor1.

Gebrechliche Personen leiden oft an mehreren Krankheiten gleichzeitig. (Bild: Colourbox)
Gebrechliche Personen leiden oft an mehreren Krankheiten gleichzeitig. (Bild: Colourbox)

Nur noch eine Pille

Ein Beispiel: Sieben von zehn Diabetikern über 65 Jahren sterben heute an Herzinsuffizienz. Warum, weiss man nicht. Um solche Zusammenhänge zu erkennen, braucht es mehr Grundlagenforschung.

Gemeinsam mit anderen Forschern vertrete ich die These, dass es gemeinsame Ursachen von altersbedingten Krankheiten gibt. Es besteht die berechtigte Hoffnung, dass in Zukunft neue Therapieansätze gefunden werden, welche die Gebrechlichkeit hinauszögern können, damit Menschen länger gesund bleiben.

«Weniger die Verlängerung des Lebens ist das Ziel, sondern die Verlängerung des gesunden Lebens.»Ralph Müller

Anstatt dass ein Patient fünf verschiedene Pillen schluckt, braucht es in Zukunft vielleicht nur noch eine Pille, die einem hilft, länger gesund zu bleiben. Es gibt heute viele Wirkstoffkandidaten, von denen man annimmt, dass sie den Alterungsprozess verlangsamen, und die man testen könnte. Dazu braucht es jedoch neue, effiziente und geeignete Modelle: Tiermodelle, Zellkulturmodelle und Computermodelle.

Entwicklung kann man beschleunigen

In Tiermodellen – selbst in solchen für altersbedingte Krankheiten – werden heute oft zwei bis sechs Monate alte Mäuse verwendet, obschon eine Labormaus eine durchschnittliche Lebenserwartung von knapp zwei Jahren hat. Ausserdem gibt es derzeit praktisch keine Tiermodelle, in denen mehrere Krankheiten gleichzeitig untersucht werden können.

Auch neue Computermodelle, in denen Therapieverfahren der Altersmedizin und von Multimorbiditäten simuliert werden können, sind wichtig. Mit ihnen könnte man eine Vorauswahl treffen. Somit würden nur noch jene Verfahren, die sich in der Simulation am vielversprechendsten erwiesen haben, am Tier und bei Menschen getestet. Man kann damit die Zahl der Tierversuche reduzieren und den Entwicklungsprozess insgesamt beschleunigen.

Jede Person profitiert davon

Therapien, welche das «gesunde Leben» verlängern, beschränken sich jedoch längst nicht nur auf Medikamente. Auch Ernährung, psychologische Massnahmen und solche im Bereich Sport und Bewegung gehören dazu, ebenso Schutzmassnahmen, welche bei einem Sturz einer alten Person einen Knochenbruch verhindern.

Nötig wäre ausserdem, dass die Forschung der Gebrechlichkeit mehr Beachtung schenkt und neue Methoden entwickelt, um Gebrechlichkeit zu messen, unter anderem über Ganganalysen und neue tragbare Sensoren («Wearables»).

Gerade auf dem Forschungsplatz Zürich sind wir stark im Bereich Medizintechnik und Gesundheit. Die ETH hat diesen Bereich ausgebaut, und die Altersforschung ist ein Schwerpunkt des vor sechs Jahren gegründeten Departement Gesundheitswissenschaften und Technologie (D-HEST) mit mehreren neugeschaffenen Professuren in diesem Bereich. Mit einer verstärkten Zusammenarbeit über die Disziplinengrenzen hinweg besteht die Chance, dass wir neue Therapien finden, welche weniger eine Verlängerung des Lebens zum Ziel haben, sondern eine Verlängerung des gesunden Lebens.

Das Schöne daran ist: Weil jeder Mensch altert, ist dies ein Forschungsziel, von dem buchstäblich jede Person profitieren wird. 

Weitere Informationen

1 Bellantuono I: Find drugs that delay many diseases of old age. Nature 2018. 554: 293, doi: externe Seite10.1038/d41586-018-01668-0

2 Cost-Projekt externe SeiteMouseAGE

JavaScript wurde auf Ihrem Browser deaktiviert