Eine Gravitationsforscherin auf der Suche nach Schwerelosigkeit

Lavinia Heisenberg ist theoretische Physikerin. Sie will nicht akzeptieren, dass die Allgemeine Relativitätstheorie das Universum nur unter der Annahme von exotischen Materien und Energien beschreiben kann. Deshalb arbeitet sie an der Erneuerung von Einsteins Theorie.

Vergrösserte Ansicht: Lavinia Heisenberg
Lavinia Heisenberg legt Wert auf interdisziplinäre Zusammenarbeit und Forschungsfreiheit. (Bild: ETH Zürich / Florian Bachmann)

Wer Lavinia Heisenbergs Curriculum Vitae anschaut, stolpert zwangsläufig über zwei Dinge: über ihren Namen und ihr Alter. Natürlich werde sie ständig auf eine Verwandtschaft mit dem Vater der Quantenmechanik und Nobelpreisträger Werner Heisenberg angesprochen, erzählt die Physikerin. «Ich antworte meist mit Heisenbergs eigenen Worten bezüglich seiner Unschärferelation: it's uncertain.» Denn der Blick auf den Stammbaum gibt keine eindeutige Antwort. Für Lavinia Heisenberg ist der bekannte Name vor allem Ansporn, um aus dem Schatten des Physik-Übervaters zu treten und mit eigener, bahnbrechender Forschung von sich reden zu machen. Sie ist auf bestem Weg dazu: Mit 33 Jahren hat Heisenberg in einem Dutzend Ländern an renommierten Universitäten gearbeitet, ihre Publikationsliste ist mehrere Seiten lang und aktuell steckt sie im Bewerbungsverfahren für eine erste eigene Professur.

Interdisziplinäre Brückenbauerin

Seit eineinhalb Jahren forscht die Physikerin als Postdoktorandin im Rahmen eines Junior Fellowships am Institut für Theoretische Studien (ITS) der ETH Zürich. Sie hat ihre neue Umgebung schätzen gelernt und sagt: «Ich habe derzeit zwei grosse Träume: Einer ist in Zürich zu bleiben.» Insbesondere die grosse Forschungsfreiheit und die Offenheit von Kollegen und Kolleginnen für interdisziplinäre Zusammenarbeiten seien an der ETH einzigartig.

Heisenberg beschreibt ihre Arbeitsschwerpunkte wie folgt: «Erstens bin ich theoretische Physikerin, zweitens Kosmologin und drittens Astrophysikerin.» Sie hat es sich zum Ziel gemacht, Brücken zwischen diesen Fachgebieten inklusive der Mathematik zu bauen. «Das braucht zwar viel Zeit, weil wir zum Teil sehr unterschiedliche Sprachen sprechen», sagt sie. «Aber dafür lerne ich ständig Neues.» Erste Publikationen in Zusammenarbeit mit ETH-Professor und Astrophysiker Alexandre Refregier sind bereits erschienen. Aktuell arbeitet sie mit ETH-Professor und Teilchenphysiker Charalampos Anastasiou zusammen.

Über die Titel und Abstracts von Heisenbergs Publikationen kann sich der Laie schlecht ein Bild ihres Forschungsalltags machen. Doch die Forscherin weiss die Verwirrung in einfachen Worten aufzulösen. Physikerinnen und Physiker kennen zwei grundsätzliche Modelle: Für die Beschreibung der mikroskopischen Welt die Teilchenphysik, darunter die Quantenmechanik. Und für die Beschreibung der makroskopischen Welt, also des Weltalls, die Kosmologie. Lavinia Heisenberg beschäftigt sich mit letzterem, wobei ihr Fokus auf der Gravitation liegt, eine von vier Grundkräften in der Physik. «Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie ist nach wie vor die beste, um Gravitation zu beschreiben, aber sie ist nicht vollständig», sagt Heisenberg. «Auf kleinen Skalen wissen wir nicht, wie wir die Theorie mit der Quantenmechanik vereinbaren sollen.»

Die Unvollständigkeit zeigt sich aber auch durch Vergleiche auf grossen Skalen, zum Beispiel anhand von Messungen zur beschleunigten Expansion des Universums und des Verhaltens von Galaxien. «Damit Theorie und Beobachtungen übereinstimmen, müssen wir sehr seltsame Annahmen treffen», erklärt Heisenberg. «Demnach bestehen 95 Prozent des Universums aus dunkler Materie und dunkler Energie. Beides konnte die Wissenschaft bis heute nicht nachweisen.»

Heisenberg brütet deshalb seit Jahren darüber, wie Einsteins Theorie modifiziert werden könnte, damit keine «exotischen» Materien und Energien nötig sind, um Gravitation und damit die Entstehung sowie die Entwicklung des Universums zu erklären. «Sie müssen sich eine physikalische Theorie wie einen Baum mit vielen Ästen vorstellen», erklärt sie. «Wenn sich der Stamm verändert, dann hat das Konsequenzen bis in die äussersten Spitzen der Baumkrone.» Bis Stamm, Äste und Zweige wieder zusammenpassen, rechnet Heisenberg oft wochenlang. Meist braucht sie dafür nur Bleistift und Schreibblock, gelegentlich auch spezialisierte Software. Das ist zeitintensiv. Trotzdem will Heisenberg nicht akzeptieren, dass es in der Gravitationstheorie nach wie vor viele Unbekannte gibt. «Ich will das verstehen; ich kann nicht anders», sagt sie.

Der Traum vom Weltall

Dieser Wissensdurst und ihre Weigerung, vermeintlich Unerklärbares zu akzeptieren, begleiten Heisenberg seit ihrer Kindheit. Sie gehörte zu jenen Mädchen, die wissen wollten, weshalb ein Buch von der Tischkante auf den Boden fällt und nicht an die Decke steigt. Oder weshalb sie in einem bremsenden Bus von einer unsichtbaren Kraft nach vorne gezogen wird. Gleichzeitig träumte sie als Kind davon, später Astronautin zu werden. Der Himmel und das Universum faszinierten sie seit jeher. Sie waren die Konstanten während einer ruhelosen Kindheit. Ihr Vater arbeitete für ein internationales Unternehmen, so dass die Familie oft den Wohnsitz wechselte und Heisenberg in unterschiedlichen Ländern aufwuchs. Heute führt sie in ihrem Lebenslauf acht Sprachen auf, wobei sie sechs davon fliessend spricht. «Ich habe mich bei jedem Ortswechsel  bemüht, die jeweilige Sprache zu lernen», erzählt die Forscherin. «Denn mit jeder neuen Sprache sieht man auch die Welt mit anderen Augen.»

Den berufsnomadischen Lebensentwurf ihrer Eltern reproduziert Heisenberg heute mit Forschungsaufenthalten und Anstellungen in aller Welt. Bevor sie nach Zürich kam, forschte sie als Postdoktorandin am Nordic Institute for Theoretical Physics in Stockholm. In den vergangenen vier Jahren weilte sie für Forschungsaufenthalte in Lissabon, Marseille, Valencia, Pisa, Paris, Kapstadt, Tokio, Waterloo und Cleveland.

Ihrem Kindheitstraum, Astronautin zu werden, ist Heisenberg bis heute treu geblieben. Ein Traum, den sie sich mit ihrer Doktormutter Claudia de Rham teilt, eine angesehene Kosmologin und damals Assistenzprofessorin an der Universität Genf. De Rham arbeitete selbst auf einen Weltall-Flug hin, wurde am Ende jedoch nicht gewählt. Die letzte Rekrutierung der European Space Agency (ESA) fand vor neun Jahren statt. Gerne hätte Heisenberg mitgemacht, doch damals fehlte ihr noch der Studienabschluss. Russisch hat sie in der Zwischenzeit gelernt, eine Voraussetzung für die Bewerbung. Aber selbst damit sind die Chancen klein: Bei der letzten Runde bewarben sich rund 10’000 Kandidaten und Kandidatinnen für fünf Plätze.

Nun hofft Heisenberg auf die nächste ESA-Ausschreibung, die voraussichtlich in den kommenden fünf Jahren stattfindet. «Wäre es nicht eine süsse Ironie, wenn eine Wissenschaftlerin, die seit Jahren die Schwerkraft erforscht, die Schwerelosigkeit erleben dürfte», fragt Heisenberg lächelnd. Sie ist überzeugt, dass sich eine Weltraummission auch gut in ihrem Lebenslauf machen würde. Schliesslich arbeiten viele Astronauten nach einer Raummission als Professoren an einer Universität. Und was könnten sich Physikstudierende mehr wünschen als eine Professorin, die von ihren Erfahrungen im Weltall erzählen kann?

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