Eine Liebeserklärung an häufige Arten

Das wichtigste Instrument des Artenschutzes – die rote Liste – ist ein Inventar der besonders seltenen Arten. Die Idee: je seltener eine Art, desto dringender sind Fördermassnahmen, um ein Aussterben zu verhindern. Dabei geht vergessen, dass unsere Natur eigentlich voller häufiger Arten sein sollte.

Vergrösserte Ansicht: Feldhase
Gibt es viele Feldhasen, ist der Lebensraum intakt. Doch das ist selten der Fall – es gibt zu wenig Feldhasen in der Schweiz. (Bild: Colourbox / Volodymyr Burdiak)

Wer als Tierart beachtet werden will, muss zuerst selten werden oder aussterben. «Lonesome George», dem inzwischen verstorbenen letzten Vertreter einer Unterart von Galapagos-Schildkröten, ist ein ganzes Buch gewidmet und nach seinem Tod wurde er einbalsamiert. Die letzte Wandertaube «Martha» war eine Berühmtheit, bevor sie und damit ihre Art am 1. September 1914 im Zoo von Cincinnati verstarb.

Kürzlich war im «Blick am Abend» folgende Schlagzeile zu lesen: «Pandas sind nicht mehr vom Aussterben bedroht. [...] Muss [der WWF] jetzt ein neues Wappentier suchen?» [1]. Der Fokus des Artenschutzes auf bedrohte Arten gibt ein falsches Bild – als ob nur seltene Arten wertvoll wären. Wie ein besonders rares Sammelstück.

Das stille Artensterben

Hypnotisiert von den besonders seltenen und bereits ausgestorbenen Arten [2], übersehen wir das leise Verschwinden der häufigeren. 2015 wurde der Haussperling von BirdLife Schweiz zum Vogel des Jahres ernannt, weil diese «vermeintliche Allerweltsart [...] in manchen Gebieten der Schweiz in den letzten dreissig Jahren in ihrem Bestand um 20 bis 40 Prozent zurückgegangen [ist].» [3] In vielen Gemeinden des Schweizer Mittellands sind im 20. Jahrhundert wohl mehr als die Hälfte der Arten verschwunden. Es ist nicht mehr selbstverständlich, vor der eigenen Haustür Feldlerche und Kuckuck zu hören, Feldhasen und Ringelnattern zu beobachten, oder eine Riedwiese voller blühender Orchideen zu bestaunen. Der wahre Skandal ist das zigfache lokale Aussterben einer Art, nicht der Tod des letzten Individuums irgendwo in einem Zoo.

Vergrösserte Ansicht: Kuckuckvogel
Allgemein bekannt, aber selten beobachtet: der Kuckuck. (Bild: iStock / Leopardinatree)

Die verlorene Natur in Erinnerung rufen

Einige ältere Gemeindebewohner werden sich noch an die vergangene Vielfalt erinnern, doch die meisten Menschen haben sich an die verarmte Natur gewöhnt. Deshalb finde ich, dass jede Gemeinde eine Dokumentation der einstigen Naturvielfalt benötigt: Eine Sammlung von alten Landschaftsfotos, und Inventare und Fotos von Arten, die früher in der Gemeinde vorgekommen sind. Und erzählte Erinnerungen von Fröschen im Feuerwehrweiher oder von Gartenrotschwänzen in den inzwischen geholzten Hochstammobstgärten.

Die Fotos sollte man auf Schildern in der Landschaft aufstellen, die Inventare im Gemeindehaus an die Wand pinnen, und die Tonbandaufnahmen am Ort der Erinnerung abspielen. Nur so werden uns die verlorenen alltäglichen Begegnungen mit wilden Pflanzen und Tieren fehlen. Haben Ihre Kinder schon einmal eine Nachtigall singen gehört? Kennen sie den Feldhasen – oder nur sein Pendant aus Schokolade?

Natur im Überfluss

Nicht nur die Anzahl der Arten, sondern auch die Anzahl der Individuen pro Art hat im Schweizer Mittelland massiv abgenommen: Im Verlauf des 20. Jahrhunderts sind viele Populationen auf einen Zehntel oder weniger geschrumpft. In historischen Berichten zur Natur in der Schweiz liest man von Überfluss: unzählige blühende Pflanzen, ein lautes Quaken der Frösche, summende Insekten, singende Vögel, und Feldhasen, die früher noch gejagt werden konnten. Alleine im Jahr 1945 wurden in der Schweiz über 75‘000 von ihnen erlegt. Heute leben hierzulande insgesamt lediglich noch etwas über 100'000 Feldhasen.

Damit Arten überleben und ihre ökologische Funktion erfüllen können, müssen die Tiere, Pflanzen oder Pilze häufig sein. Nicht drei Frösche, sondern dreihundert oder dreitausend pro Gemeinde sichern das Überleben der Froschart. Vielleicht fürchten wir uns auch deshalb vor invasiven Arten. Wir haben vergessen, dass Natur wuchert.

Mit Erfolgen auftrumpfen

Ich liebe häufige Arten auch deshalb, weil sie Naturschutzerfolge versprechen. Sie lassen sich mit relativ geringem Aufwand und grossen Erfolgschancen fördern. Und dies nicht nur in den wenigen grösseren Naturschutzgebieten, sondern in jeder Gemeinde. Jeder Ort hat das Potenzial, ein Naturparadies von häufigen Arten zu werden. Die Beispiele des Storchs und des Bibers zeigen, wie Arten in kurzer Zeit wieder häufig werden können, und wie solche überraschende Rückeroberungen Kinder und Erwachsene begeistern.

Seltene Arten aufgeben?

Bedeutet der Fokus auf häufige Arten, dass wir die seltenen abschreiben und das beginnende Artensterben akzeptieren? Mit den heute dem Naturschutz zur Verfügung stehenden Mitteln wird das Aussterben seltener Arten tatsächlich nicht mehr zu verhindern sein. Im Jahr 2011 gaben Bund, Kantone und Gemeinden zusammen 1,5 Promille der öffentlichen Gelder für den Arten- und Landschaftsschutz aus. Das sind jährlich rund 30 CHF pro Bewohnerin und Bewohner. Für den Verkehr wurden 11,1 Prozent ausgegeben: jährlich 2‘290 CHF pro Kopf, also über siebzigmal mehr [4].

Mehr Naturschutz wäre also problemlos finanzierbar. Ich hoffe, dass Naturschutzerfolge mit häufigen Arten rechtzeitig aufzeigen, dass es sich lohnt, auch seltene Arten zu retten. Ich stelle mir vor, dass eine seltene Art zu einer Attraktion einer Gemeinde werden kann; genauso wie eine Burg oder ein anderes historisches Denkmal. Jeder Gemeinde seine einmalige Art – inmitten von vielen häufigen Arten.

 

Weiterführende Informationen

[1] externe SeiteArtikel von Blick am Abend

[2] Bereits sind über 250 Arten in der ganzen Schweiz ausgestorben, und bei fast der Hälfte der Arten besteht gemäss der roten Listen ein Aussterberisiko (Einteilung als «potenziell gefährdet» oder höher). Für mehr Informationen siehe: Forum Biodiversität Schweiz 2015. externe SeiteZustand der Biodiversität in der Schweiz 2014 – Die Analyse der Wissenschaft.

[3] Birdlife: externe SeiteHaussperling

[4] Bericht externe SeiteBiodiversitätspolitik Schweiz

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