Die Antarktis in unserem Hinterhof

Während die Antarktis ein grosses Meeresschutzgebiet erhält, kommt ein neuer Nationalpark in der Schweiz nicht zustande. Wir schützen Wale, die wir nie zu Gesicht bekommen, und vergessen dabei die Tier- und Pflanzenwelt in unseren eigenen Wäldern und Feldern, in denen es immer stiller wird.

Vergrösserte Ansicht: Antarktische Pinguine.
Die antarktischen Pinguine gehören zu jenen Tierarten, die im weltgrössten Meeresschutzgebiet leben. (Image: flammulated / iStock)

Politiker und Wissenschaftler feierten kürzlich die Gründung des weltweit grössten Meeresschutzgebiets direkt vor dem Ross-Schelfeis in der Antarktis [1]. Es bietet nicht nur Weddellrobben, Killerwalen und Kaiserpinguinen Schutz. Auch grosse Fischpopulationen wie der Riesen-Antarktisdorsch finden Zuflucht vor Fischfangflotten. Mit einer Fläche von 1,55 Millionen Quadratkilometern – 37-mal so gross wie die Schweiz – ist das durch eine Vereinbarung zwischen 24 Ländern und der EU gegründete Schutzgebiet zweifellos ein Erfolg für all jene, die den Naturschutz hochhalten.

Lokale Schutzanstrengungen

Antarktis: Das Ross-Schelfeis ist mit einem roten X markiert.
Antarktis: Das Ross-Schelfeis ist mit einem roten X markiert. (Karte: Wikimedia)

Auch wenn wir uns zu Recht über den Schutz einer abgelegenen und unberührten Landschaft freuen, sind wir uns doch der Umwelt und Artenvielfalt in unserem direkten Umfeld zu wenig bewusst. In seinem Living Planet Report [2] hielt der WWF kürzlich fest, dass der Bestand an frei lebenden Land- und Meerestieren allein in den letzten 40 Jahren (1970-2012) weltweit um fast 58 Prozent gesunken ist – eine Zahl, die bis 2020 wahrscheinlich auf 67 Prozent ansteigen wird. Auch wenn diese Entwicklung durchaus abgelegene Gegenden wie die antarktischen Meeresgebiete und den Regenwald von Borneo betrifft, sollten wir nicht vergessen, dass ein Grossteil des Rückgangs direkt in unserer Nachbarschaft stattfindet.

Wir unterstützen Initiativen zum Schutz von Tigern und Walen in weit entfernten Gegenden und ignorieren dabei, dass unsere heimischen Gartenvögel, Insekten, alpinen Pflanzen und ursprünglichen Baumbestände zusehends weniger werden. Die europäischen Hecken und Feldsäume, die einst reich an Insekten und Spinnentieren waren, haben ihre natürliche Identität verloren oder sind nach jahrzehntelanger intensiver Landwirtschaft gar vollständig verschwunden. In unseren Wäldern ist es unnatürlich still, was uns kaum aufzufallen, geschweige denn zu stören scheint. Die Schweiz hat erst kürzlich die Chance verpasst, mit dem Parc Adula [3] einen zweiten Nationalpark zu gründen. Tropische Regenwälder und antarktische Meeresgebiete scheinen stärker in unser Gewissen vorzudringen als unser eigenes Umfeld. Warum?

Mit dem Ort verbunden

Ich schreibe dies dem Verlust der «Ortsverbundenheit» in unserer modernen und grösstenteils urbanisierten Welt zu. Amos Rapoport, ein relativ bekannter australischer Architekt [4], ist fasziniert von der Beziehung der australischen Aborigines zum Land, auf dem sie leben. Für sie ist jedes Element in der Landschaft voller Sinn und Legenden. Mythen und Rituale, die geografisch eng mit dem jeweiligen Ort verbunden sind, vermitteln ein Gefühl von Zugehörigkeit und Verständnis. Steine und Flüsse erzählen Geschichten. Sie zeichnen eine mythologische Landschaft, die dem Leben Zweck und Bedeutung verleiht.

Dabei, so erklärt uns Rapoport, sind die natürliche und die mythische Landschaft nicht identisch. Sie sind aber eng miteinander verwoben und treffen an markanten Orten sowie in Naturphänomenen aufeinander. Aborigines bewegen sich nicht einfach in einer physischen Landschaft, sondern einer «vermenschlichten Sphäre voller Sinn». Was unseren Augen als weite, öde Landschaft erscheint, ist für einen Aborigine voller Bedeutung, die Brücken zwischen der physischen und der geistigen Welt schlägt.

Uns im Westen erschliesst sich der Sinn dieser ursprünglichen Landschaften nicht. Wir laufen aber auch Gefahr, das Wesen und die Bedeutung unserer eigenen Landschaften zu verkennen. Rapoport zufolge lassen sich die Aborigines durch Fotos von Gebäuden, Flugzeugen oder Autos kaum beeindrucken. Sie interessieren sich für Landschaften, Natur, Menschen und Tiere und nehmen darauf Rücksicht. Unsere Werte hingegen sind heute eng mit unserem künstlich erschaffenen Umfeld verbunden: mit unseren Städten und Gebäuden – oder gar noch nüchterner mit den materiellen Gütern, welche Reichtum, Prestige und unseren Wunsch nach Anerkennung widerspiegeln. Wir sind mit der Naturlandschaft um uns herum kaum mehr verbunden und schätzen sie entsprechend gering. Wir haben unsere Ortsverbundenheit verloren. Genau das ist meiner Meinung nach der Grund, warum wir den Untergang unserer europäischen Arten nicht aufhalten, obwohl sich diese Tragödie direkt vor unseren Augen abspielt.

Im Einklang mit der Umwelt

Der Kiebitz (Vanellus vanellus).
Der Kiebitz (Vanellus vanellus). (Bild: Andreas Trepte / Wikimedia)

Ich erinnere mich daran, wie ich als Student der Universität von St. Andrews in Schottland mit dem Velo die Landstrassen am East Neuk of Fife entlangradelte und dabei die Scharen von Kiebitzen bestaunte, die sich auf die frisch gepflügten Felder stürzten. Ich erinnere mich, wie sich immer wieder fädige Spinnweben (englisch: gossamer threads) in meinem vom Wind durchwehten Haar verfingen. Die Zahl der Kiebitze ist seither um etwa 60 Prozent zurückgegangen, und die feinen Spinnweben nimmt ein Velofahrer heute nicht mehr wahr. Solche besondere Momente gibt es heute nicht mehr. Aber in meiner Erinnerung leben sie weiter.

Die Natur schützen bedeutet mehr, als nur exotische Arten und abgelegene Orte von herausragender Schönheit zu schützen, die wir selbst wahrscheinlich nie zu Gesicht bekommen. Es bedeutet auch, unsere alltäglichen Naturerlebnisse zu bewahren. Und zwar nicht als Erinnerungen, sondern als reale Erlebnisse, die wir zusammen mit unseren Kindern und Enkelkindern immer wieder aufs Neue erfahren.

Damit diese Vision wahr wird, müssen wir unsere Landschaften und Lebensräume wieder wahrnehmen und ihre natürliche Schönheit erkennen. Wir müssen unsere Ortsverbundenheit wiederentdecken und die immateriellen Werte schätzen lernen, die uns mit Land und Natur verbinden. Nur dann können wir – ähnlich wie die Aborigines in Australien – eine harmonische Beziehung zu unserer Umwelt aufbauen – eine Beziehung, in der wir uns als Teil der Natur verstehen anstatt sie aus dem Gleichgewicht zu bringen.

Weiterführende Informationen

[1] Die Kommission zur Erhaltung der lebenden Meeresschätze der Antarktis (externe SeiteCCAMLR) (2016)

[2] externe SeiteLiving Planet Report des WWF (2016)

[3] externe SeiteParc Adula 

[4] Amos Rapoport (1972) externe SeiteAustralian Aborigines and Definition of Place

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