Gibt es endgültige Antworten für unentscheidbare Fragen?

Unlösbare Probleme, die Natur des Unendlichen und die Frage, ob und wie sich die Mathematik möglichst endgültig begründen lässt, stehen im Mittelpunkt der Bernays Lectures 2016. Redner dieser Ehrenvorlesungen der ETH Zürich ist in diesem Jahr William Hugh Woodin, Professor für Philosophie und Mathematik an der Harvard Universität.

Der Logiker Hugh Woodin befasst sich mit den mengentheoretischen Grundlagen der Mathematik. Dabei spielt auch die Unendlichkeit ein wichtige Rolle. (Bild: Colourbox/Wikipedia)
Der Logiker Hugh Woodin befasst sich mit den mengentheoretischen Grundlagen der Mathematik. Dabei spielt die Unendlichkeit ein wichtige Rolle. (Bild: Colourbox / Wikipedia)

Ihrem Wesen nach ist die Mathematik eine strenge Wissenschaft, die prinzipiell endgültige und allgemeingültige Wahrheiten sucht und erzeugt. Gleichwohl kennt die Mathematik an ihren äussersten Rändern noch einige Rätsel, die sie nicht eindeutig und widerspruchsfrei lösen kann. Der Weg, den Mathematikerinnen und Mathematiker zur Lösung einschlagen, ist dabei wesentlich gezeichnet von ihrer Vorstellungskraft und ihrer philosophischen Haltung.

Mit den Paul Bernays Lectures bietet die ETH Zürich jedes Jahr eine Bühne, auf der philosophische Aspekte der exakten Wissenschaften zur Sprache kommen. In diesem Jahr trägt der Logiker und Mengentheoretiker Hugh Woodin von der Harvard Universität seine Einsichten über unlösbare Probleme und die Natur des Unendlichen vor.

Als Forscher befasst sich Hugh Woodin mit den Grundlagen der Mathematik und mit der Frage, wie sich die Mathematik als Ganzes logisch aufbauen und begründen lässt. Da sich alle mathematischen Probleme in der Form von Mengen erfassen und darstellen lassen, gilt die Mengenlehre heute als das logische Fundament der Mathematik.

Verschieden grosse Unendlichkeiten

Wie alle mathematischen Theorien baut die Mengentheorie auf Axiomen auf. Das sind möglichst einfache und als wahr akzeptierte Grundsätze, aus denen sich alle weiteren wahren Sätze widerspruchfrei ableiten lassen, und die zusammen ein möglichst vollständiges und widerspruchsfreies Ganzes (System) bilden sollen.

Für die natürlichen Zahlen (0,1,2,3,4,5,6, usw.) hat sich ein Standardsystem mit dem Namen ZFC durchgesetzt, das auf Ernst Zermelo (1871–1953) und Abraham Fraenkel (1891–1965) zurückgeht und heute neun Axiome umfasst. Das Axiomensystem ZFC ist die Grundlage der Mengenlehre und damit für die Mathematik insgesamt.

Im Mittelpunkt von Hugh Woodins Schaffen steht die Auseinandersetzung mit einem der grössten Rätsel der Mengenlehre: nämlich mit der so genannten Kontinuumshypothese. Diese Vermutung stellte Georg Cantor (1845–1918), der Begründer der Mengenlehre, als erster im Zusammenhang mit dem Begriff der Unendlichkeit auf.

Er hatte 1878 entdeckt, dass auch Mengen mit unendlich vielen Elementen verschieden gross sein können. Er bewies zum Beispiel, dass die Menge der reellen Zahlen (z.B. 7, −51, 106, 5/9, 2.4137, √3, π, etc.), die Richard Dedekind 1858 an der ETH Zürich in die Mathematik eingeführt hatte, «noch viel unendlicher» ist als die Menge der natürlichen Zahlen. Zugleich vermutete er, dass es zwischen diesen beiden Unendlichkeiten keine weitere Unendlichkeit geben könne. Beweisen konnten er seine Vermutung jedoch nicht, und im 20. Jahrhundert verschärfte sich die Situation sogar noch.

Unlösbar – weder bewiesen noch widerlegt

Zunächst bewies Kurt Gödel (1906–1978), dass die Kontinuumshypothese mit dem Axiomensystem ZFC konsistent, das heisst widerspruchsfrei, ist. Dann gelang Paul Cohen (1934-2007) der Beweis, dass auch die Negation der Kontinuumshypothese mit ZFC konsistent ist. Das heisst nichts anderes als dass man die Kontinuumshypothese mit den Axiomen der Mengenlehre weder beweisen noch widerlegen kann. Deshalb ist die Kontinuumshypothese unentscheidbar in ZFC und damit ein unlösbares Problem.

Sowohl Gödel als auch Cohen haben Techniken entwickelt, die zur Lösung des Problems führen könnten, und Hugh Woodin ist einer derjenigen, die ihr Erbe angetreten haben. Er hat mit beiden Techniken Zwischenerfolge auf dem Weg zu einer endgültigen Lösung erreicht. 

Zunächst arbeitete Hugh Woodin mit Cohens Forcing-Technik, mit der man Modelle der Mengenlehre um bestimmte Grundaussagen erweitern und Mengen mit bestimmten Eigenschaften erzeugen oder ausschliessen kann. Damit versuchte er die ZFC-Axiome zu erweitern und die Kontinuumshypothese zu widerlegen. Mittlerweile arbeitet Woodin aber mit einem Modell, das näher bei Gödels so genanntem «konstruktiblen Modell L» ist, in dem die Kontinuumshypothese gilt. Ein Modell für ZFC ist dabei eine Struktur, die alle Axiome von ZFC erfüllt.

Ein richtiges Modell oder viele schöne?

Bei der Frage, wie man die ZFC-Axiome erweitern soll, gehen die Ansichten der Mengentheoretiker weit auseinander. Einige folgen Woodin und hoffen mit zusätzlichen Axiomen schliesslich das «richtige» Modell der Mengenlehre zu finden. Andere versuchen, mit der Forcing-Methode Axiome zu ZFC hinzuzufügen oder wegzulassen, um so verschiedene mengentheoretische Modelle zu konstruieren.

Mit der Forcing-Methode arbeitet der Logiker und Mengentheoretiker Lorenz Halbeisen. Der Privatdozent der ETH Zürich wird an der Bernays Vorlesung am 14. September 2016 in das Werk von Hugh Woodin einführen. «Mich fasziniert, wie reichhaltig das Axiomensystem ZFC ist, und welche Modelle der Mengenlehre sich dadurch bilden lassen.»

Anders als Hugh Woodin sucht Lorenz Halbeisen nicht nach dem einen idealen und richtigen Modell der Mengenlehre, ihn reizt mehr, «wie sich die Mathematik verändert, wenn man ein Axiom dazu oder wegnimmt, und dass man auf diese Weise verschiedene Mengenlehren oder verschiedene Arten der Mathematik erhalten kann.»

Halbeisen räumt aber ein, dass es für Forschende, die wie Woodin die Mengenlehre als das Fundament der Mathematik begreifen, wenig Sinn ergibt, verschiedenen Modelle der Mathematik zu haben, «weil das heisst ja auch, dass die gesamte Mathematik bis zu einem gewissen Grad beliebig ist», sagt Halbeisen, «wer wie ich jedoch die Mengenlehre als Teilgebiet der Mathematik versteht, für den ist genau das spannend, dass man verschiedene Modelle vergleichen und die Grenzen eines axiomatischen Systems untersuchen kann.»

Paul Bernays Lectures 2016

Prof. W. Hugh Woodin, Harvard University, USA

Vortrag 1:
UNLÖSBARE PROBLEME, DIE KONTINUUMSHYPOTHESE, UND DIE NATUR DES UNENDLICHEN

Mittwoch, 14. Sept. 2016, 17:00 Uhr, Auditorium F3, ETH Hauptgebäude

Vortrag 2:
UNLÖSBARE PROBLEME IN DER ZAHLENTHEORIE ZWEITER STUFE UND DEREN LÖSUNGEN

Donnerstag, 15. Sept. 2016, 14:15 Uhr, Auditorium F3, ETH Hauptgebäude

Vortrag 3:
JENSEITS DER ZEIT DER UNABHÄNGIGKEIT DURCH FORCING

Donnerstag, 15. Sept. 2015, 16:30 Uhr, Auditorium F3, ETH Hauptgebäude

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Hugh Woodin erklärt die Kontinuumhypothese am World Science Festival. (Video: WSF)
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