Die Welt verstädtert

Die Verstädterung verändert die Welt. Im Interview erläutern Marcel Meili, ETH-Professor für Architektur und Entwurf, und Christian Schmid, Stellvertretender Leiter des Netzwerks Stadt und Landschaft, wieso sich Städte rund um die Welt ausbreiten und was die Stadtlandschaft der Schweiz besonders macht.

Vergrösserte Ansicht: Marcel Meili, ETH-Professor für Architektur und Entwurf, und Christian Schmid, Stellvertretender Leiter des Netzwerks Stadt und Landschaft. (Bild: ETH Zürich / Jürg Waldmeier)
Marcel Meili, ETH-Professor für Architektur und Entwurf, und Christian Schmid, Stellvertretender Leiter des Netzwerks Stadt und Landschaft. (Bild: ETH Zürich / Jürg Waldmeier)

In einer Publikation über die «unausweichliche Spezifizität der Städte» haben die Architekten Roger Diener, Jacques Herzog, Marcel Meili, Pierre de Meuron und der Soziologe Christian Schmid vom ETH Studio Basel, Institut Stadt der Gegenwart beschrieben, wie die Welt verstädtert. Das Buch erschien zehn Jahre, nachdem sie 2005 die Schweiz mit einem «städtebaulichen Porträt» und der Feststellung wachgerüttelt hatten, dass auch die Schweiz vollständig verstädtert sei.

Herr Meili, Herr Schmid, was ist typisch für die weltweite Entstehung von Stadtlandschaften?
Christian Schmid:
Rund um den Globus dehnen sich Metropolitanregionen immer weiter aus und bilden zusammen mit ihrem Umland neuartige, grossflächige Stadtlandschaften, die sich weit in bislang ländliche oder auch bislang unbewohnte Gebiete ausdehnen. Wir nennen dieses Phänomen «planetare Urbanisierung». Die grösste Stadtlandschaft befindet sich im Mündungsdelta des Perlflusses, wo sich die Millionenstädte Hongkong, Shenzhen, Dongguan, Guangzhou, Foshan und Macau überlappen und ein hoch dynamischer Siedlungs- und Wirtschaftsraum heranwächst.

Marcel Meili: Diese Verstädterungsphänomene beobachten wir zwar weltweit, sie verlaufen aber nicht in allen Regionen gleich: es gibt Unterschiede zwischen Neapel, Nairobi, Beirut, den Kanarischen Inseln oder der Schweiz. Die brasilianische Metropole Belo Horizonte zum Beispiel ist seit ihren Anfängen vom Bergbau geprägt. Diese Prägung lässt sich nicht nur in der Siedlungsform ablesen, sondern auch in Politik, Baugesetzen und Lebensgewohnheiten der Menschen.

Was sind die urbanen Besonderheiten der Schweiz?
Marcel Meili:
Basel, Genf und Zürich stellen grossräumige und international vernetzte Ballungsräume dar. Zugleich haben die mittelgrossen Städte eine relative Bedeutung als regionale Zentren. Wie eine «Perlenkette», die sich vom Bodensee bis zum Genfersee erstreckt, bilden sie die Agglomerationslandschaft der Schweiz. Mit diesen Stadtgebieten vernetzt sind die urbanisierten, aber immer noch landwirtschaftlich dominierten Gebiete, die wir «stille Zonen» nennen.

Vor zehn Jahren lösten Sie mit einem «städtebaulichen Porträt» eine breite Debatte über die Raumordnung der Schweiz aus. Wie beurteilen Sie jene Debatte heute?
Christian Schmid
: Es ist uns damals gelungen, das idyllisch überhöhte Bild einer ländlichen Schweiz zu verändern. Selbst die planerische Diskussion orientierte sich damals noch stark an der Vorstellung,  dass städtische und ländliche Gebiete getrennt seien und sich die Agglomerationen ringartig um Kernstädte herum ausdehnten. Indem wir zeigten, dass die ganze Schweiz verstädtert und in unterschiedliche Stadtlandschaften gegliedert war, konnten wir – zusammen mit anderen – zu einem Paradigmenwechsel in der Schweizer Politik und Raumplanung beitragen.

Marcel Meili: Wir waren nicht die Einzigen, die damals neue, grossräumige Modelle für die Urbanisierung entwickelten. Die Qualität unseres Porträts war es, dass es kein reines Architekturbuch ist. Es ging nicht so sehr um einzelne Hochhäuser oder Industrieanalagen, sondern um die Lebensbedingungen der Menschen und wie sie ihre Territorien entwickeln. Ein Teil der Wirkung des Porträts erklärt sich damit, dass einige ihre Lebenssituation in den Beschreibungen wiedererkannten.

Welche Wirkung hatte das städtebauliche Porträt auf Politik und Raumplanung der Schweiz?
Marcel Meili:
Die Betrachtung von grossräumigen, städtischen Zusammenhängen ist heute stärker in die Politik integriert als vor zehn Jahren. Wir diskutieren anders über Siedlungsstrukturen. Im Grossraum Zürich zum Beispiel gibt es die Metropolitankonferenz als Plattform für die gebietsübergreifende Zusammenarbeit. In dieser Hinsicht war unser Porträt eine Art «intellektuelles Engineering», eine Entwicklungsarbeit an den Einstellungen. Auf die Planungspraxis und die Gesetzgebung in Kantonen und Gemeinden hat das Porträt aber wenig Einfluss.

Christian Schmid: Auf Gemeindeebene geht es auch weniger um Leitbilder als um handfeste Steuer- oder Wirtschaftspolitik. Das Bedürfnis nach Abgrenzung gibt es da nach wie vor – zum Beispiel fährt die Glattalbahn in weiss-blau und nicht wie die Zürcher Trams in blau-weiss. Viele Aspekte unserer territorialen Analyse flossen jedoch in das «Raumkonzept Schweiz» ein, das Leitbild des Bundes für Siedlung, Verkehr, Infrastrukturen und Landschaft.

Ein anderer, damals umstrittener Begriff war die «alpine Brache» für landwirtschaftlich geprägte Gebiete mit einer schwierigen Wirtschaftslage und anhaltender Abwanderung.
Christian Schmid:
Im «Porträt» haben wir einen neuen Ansatz entwickelt, um städtische Phänomene auch ausserhalb der Stadtgebiete zu erfassen, also auch in Berggebieten. Ein Beispiel für ein urbanes Phänomen in den Alpen ist der Zweitwohnungsbau, der in der Volksabstimmung von 2012 ja stark eingeschränkt wurde.

Marcel Meili: Die alpine Brache war für uns auch ein urbanes Phänomen. Abwanderung und wirtschaftliche Auszehrung von Alpentälern stehen nicht im Gegensatz zu städtischen Entwicklungen, sondern hängen eng mit diesen zusammen. Roger Diener und ich haben den Ansatz seither unter dem Oberbegriff des Territoriums weiterentwickelt. Unser Buch dazu soll 2016 erscheinen. Darin beschreiben wir, wie die Erdoberfläche weltweit über riesige Gebiete hinweg urbanisiert wird.

Publikationen des ETH Studios Basel

«The Inevitable Specificity of Cities». Hg. v. ETH Studio Basel. Mit Beiträgen von Roger Diener, Mathias Gunz, Manuel Herz, Jacques Herzog, Rolf Jenni, Marcel Meili, Shadi Rahbaran, Christian Schmid, Milica Topalovic. Ca. 300 Abbildungen, ca. 320 Seiten, Lars Müller Publishers, Zürich, 2015.

«Die Schweiz – ein städtebauliches Portrait». Hg. v. ETH Studio Basel. Roger Diener, Jacques Herzog, Pierre de Meuron, Marcel Meili, Christian Schmid. 4 Bde., 1020 Seiten, Birkhäuser-Verlag für Architektur, Basel, 2005.

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