Neue Paradigmen für die Urbanisierung

Am 4. Dezember wurde die Biennale für Stadtentwicklung und Architektur in Shenzhen eröffnet. Zwei Architektur-Professoren der ETH Zürich sind Co-Kuratoren, und die Hochschule ist mit mehreren Ausstellungsbeiträgen beteiligt. Zudem werden ETH-Studierende mit Kollegen und Kolleginnen aus China neue Projekte erarbeiten, wofür eigens eine temporäre Schule eingerichtet wird.

Vergrösserte Ansicht: biennale shenzhen
Entsprechend dem Motto «Re-living the city» findet die Biennale auf dem Gelände einer aufgegeben Fabrik statt. (Bild: UABB)

Der Austragungsort der sechsten «Bi-City Biennale of Urbanism/Architecture Shenzhen» (externe SeiteUABB) steht stellvertretend für das Phänomen, das sie thematisieren will: Aus einem kleinen Fischerdorf, auf der gegenüberliegenden Flussseite von Hong Kong, entwickelte sich in etwas mehr als dreissig Jahren eine Stadt mit zehn Millionen Einwohnern. «China will in den kommenden Jahren 250 Millionen Menschen urbanisieren – das sind zehn Megastädte! Shenzhen steht prototypisch für diese Entwicklung», sagt Hubert Klumpner, Professor für Architektur und Städteplanung an der ETH Zürich. Klumpner ist Teil des Kuratorenteams, bestehend aus seinem Arbeitspartner Alfredo Brillembourg, der chinesischen Architektin Doreen Heng Liu und dem amerikanischen Kunstkritiker und Kurator Aaron Betsky.

Mit Collage zu nachhaltiger Architektur

Die Biennale in Shenzhen unterscheidet sich stark von ihren Geschwister-Veranstaltungen in Venedig, Rotterdam oder Sao Paulo. Hier stehen nicht einzelne Bauprojekte und die dazugehörige Architekturtheorie im Vordergrund. Vielmehr will sie zur kritischen Auseinandersetzung mit aktuellen Urbanisierungsprozessen und zeitgenössischem Städtebau anregen. «Wir wollen Alternativen zur grassierenden `Dubai-isierung` und zu `Smart City`-Konzepten aufzeigen, die in der Realität oft nicht funktionieren», sagt Klumpner. Postmodernes High-Tech-Bauen und damit verbundene Design-Prozesse werden den sozialen Realitäten an einem bestimmten Ort oft nicht gerecht.

Als Alternative präsentieren die Kuratoren unter dem Titel «Re-living the city» Ansätze, die einen neuen Umgang mit dem Baubestand fordern. Vermeintlich «totes» Material soll zu neuem Leben erweckt werden. Entsprechend findet die Biennale in einer aufgegebenen Mehlfabrik aus den 1980er-Jahren statt, die für die Biennale umgebaut und zu neuem Leben erweckt wurde. «Collage Architecture», nennen das die Kuratoren, und verstehen darunter eine Architektur, die sich radikal dem Bestand bedient, diesen neu interpretiert, verwandelt und den aktuellen Bedürfnissen der Gesellschaft anpasst. «Wir haben genügend Gebäude, genügend Objekte und genügend Bilder», schreibt Aaron Betsky im Katalog zur Biennale. Nun gehe es darum mit dem gesamten Baubestand der Städte einen kreativen Umgang zu finden. Dies ganz im Sinne einer nachhaltigen Architektur und Städteplanung, die anstelle immer neue Ressourcen zu verschlingen, neue Wege des Recyclings erprobt und dadurch Stoffkreisläufe schliesst.

Vergrösserte Ansicht: Biennale Shenzhen
Das Gelände der Biennale steht stellvertretend für eine Architektur, die sich radikal dem Bestand bedient, diesen neu interpretiert, verwandelt und den aktuellen Bedürfnissen der Gesellschaft anpass. (Bild: UABB)

Kartographieren einer allumfassenden Urbanisierung

An der dreimonatigen Biennale (vom 4. Dezember 2015 bis 28. Februar 2016) werden mehrere ETH-Städteplaner und -Architekten eigene Beiträge präsentieren; darunter das Projekt «Cartographies of Planetary Urbanization». Dieses basiert auf der These, dass unser Verständnis von «Stadt», im Sinne von abgeschlossenen, global reproduzierbaren Einheiten, dem Phänomen der Urbanisierung nicht mehr gerecht wird. Vielmehr seien Städte heute eingebettet in territoriale Verflechtungen auf unterschiedlichen Ebenen und geprägt von sich ständig verändernden Bedingungen.

Drei interdisziplinäre Teams haben diese Urbanisierungsdynamiken erforscht und neue Konzepte entwickelt, um diese akkurat zu beschreiben. Christian Schmid, ETH-Professor für Stadtsoziologie, hat dafür acht Metropolregionen auf Urbanisierungsprozesse hin analysiert – darunter Tokyo, Kalkutta, Lagos, Paris, Mexico City und Hong Kong/Shenzhen/Dongguan. Darauf basierend entwickelte sein Team neue Werkzeuge zur vergleichenden Analyse von Städteregionen. Milica Topalovic, Assistenzprofessorin der ETH Zürich und in den letzten fünf Jahren vorwiegend am ETH Future Cities Laboratory in Singapur tätig, hat sich eingehend mit Singapur auseinandergesetzt; eine Stadt, die ohne mannigfaltige regionale und globale Vernetzung zum Stillstand käme. Umso interessanter schien es ihr und ihrem Team, die Flüsse von Nahrungsmitteln, Wasser, Energie und Sand sowie die Ströme der Arbeitskräfte genauer zu studieren, um so das Selbstverständnis Singapurs als abgeschlossener Stadtstaat zu hinterfragen. Und schliesslich verdeutlicht Neil Brenner vom Urban Theory Lab der Harvard University in seinem Beitrag, dass heute sogar abgelegene und wilde Gebiete, wie der Amazonas, die Arktis oder Wüsten, wie die Sahara oder Gobi, Spuren der globalen Urbanisierung aufweisen. Zum Beispiel infolge von intensiver Landnutzung zur Nahrungsmittelversorgung in den Zentren oder aufgrund von neu entstandenen Verteilnetzwerken, über die lebensnotwendige Güter in die urbanen Zentren gelangen. Das dreiteilige Projekt «Cartographies of Planetary Urbanization» ist in Shenzhen in einem eigens dafür eingerichteten Raum in Form von Karten, Visualisierungen, Fotografien und Texten zu sehen. 

Temporäre Universität

Zusätzlich zu den Ausstellungsbeiträgen, findet während der Biennale ein viermonatiges Schulprogramm, die sogenannte Aformal Academy, statt. Dazu wurde eigens eine alte Mühle zu einer temporären Universität umgebaut. Studierende der ETH Zürich, des Massachusetts Institute of Technology (MIT), der Harvard University und der TU DELFT werden dort gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus China lernen und eigene Projekte entwickeln. «In Shenzhen gibt es heute noch keine Universität, die Architekten und Städteplaner ausbildet», sagt Klumpner. «Wir möchten mit unserer temporären Schule einen Anstoss dazu geben.»

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