Wie sich Zellen Freiraum schaffen

Damit sich Zellen der Darmwand teilen können, müssen sie ihre dichtgepackte Umgebung verlassen und an die Oberfläche wandern. Wie die Zellen dies schaffen, haben ETH-Forschende nun herausgefunden – mit einem winzigen Nagelbrett.

Vergrösserte Ansicht: Seitenansicht des «Mikronagelbretts». In Blau sind die Säulen sichtbar, in Grün Epithelzellen, wobei sich eine davon (rechts) für die Teilung nach oben gehievt hat (mikroskopische Aufnahme). (Bild: Sorce B et al. Nature Communications 2015)
Seitenansicht des «Mikronagelbretts». In Blau sind die Säulen sichtbar, in Grün Epithelzellen, wobei sich eine davon (rechts) für die Teilung nach oben gehievt hat (mikroskopische Aufnahme). (Bild: Sorce B et al. Nature Communications 2015)

Der menschliche Körper erneuert sich fortwährend. Tag für Tag sterben mehrere Billionen  unserer Körperzellen. Ebenso viele entstehen in diesem Zeitraum neu, weil sich andere Zellen teilen. Damit sie dies können, nehmen Zellen eine Kugelform an. Nur so klappt die Aufteilung der Chromosomen auf die zwei entstehenden Tochterzellen problemlos. Tag für Tag kommt es daher in unserem Körper billionenfach zu folgendem Schauspiel: Eine Zelle ändert ihre für ihre Funktion charakteristische Form zu einer Kugel, sie teilt sich, und die Tochterzellen nehmen wieder ihre arttypische Gestalt an.

Besonders drastisch und schwierig ist diese Formänderung bei säulenförmigen, nebeneinandergereihten Zellen, etwa bei den sogenannten Epithelzellen, die die Darmwand und andere Schleimhäute und Gefässwände bilden. Diese Zellen stehen ähnlich wie Zahnstocher in einer Dose dichtgepackt Seite an Seite mit Nachbarzellen. Um sich für die Zellteilung zur Kugel umzuformen, haben die Zellen im Wandgewebe kaum Platz. Mit welchem Mechanismus sie es trotzdem schaffen, haben Forschende am Departement Biosysteme der ETH Zürich in Basel nun herausgefunden.

Membranproteine pumpen die Zellen auf

Vergrösserte Ansicht: Schema der Zellteilung
Epithelzellen wandern an die Oberfläche, um sich teilen zu können. (Schema: Sorce B et al. Nature Communications 2015)

Bereits bekannt ist der grundsätzliche Mechanismus, wie die Zellen zur Kugel werden. Daniel Müller, Professor für Biophysik, und sein Team zeigten vor einigen Jahren, wie die Zellen dazu molekulare Pumpen in ihrer Aussenhülle aktivieren. Diese transportieren Salz-Ionen ins Zellinnere. Die Ionen erzeugen einen sogenannten osmotischen Druck, der Wasser in das Zellinnere nachströmen lässt, wodurch sich die Zelle zu einer Kugel ausdehnt.

Ebenfalls bekannt von Beobachtungen unter dem Mikroskop ist, wo die stäbchenförmigen Epithelzellen den Platz finden, um sich zur Kugel zu formen: «Die Zellen wandern aus der Epithelschicht hinaus an die Oberfläche», erklärt Müller. «Dort teilen sie sich und wandern anschliessend wieder zurück in die Epithelschicht.»

Zellen zwängen sich aus der Wand

Doch wie gelangen die Zellen an die Oberfläche? In einer neuen Studie haben Mitglieder aus Müllers Gruppe gemeinsam mit anderen Forschungsgruppen am Departement Biosysteme nun zeigen können, dass die Epithelzellen dazu denselben Mechanismus verwenden wie alle anderen Zellen. «Die Zellen pumpen sich mit Salz-Ionen voll und werden wegen des osmotischen Drucks prall. Ausserdem zieht sich das innere Skelett der Zellen zusammen. Die Zelle kann so die notwendige Kraft erzeugen, um sich selbst gegen äussere Widerstände quasi aus der Epithelschicht rauszuzwängen und an die Oberfläche zu ploppen», sagt Müller.

Vergrösserte Ansicht: Mikronagelbrett
Elektronenmikroskopische Aufnahme des «Mikronagelbretts». Die Säulen sind rund 8 Mikrometer hoch mit einem Zwischenraum von rund 7 Mikrometern. (Bild: Sorce B et al. Nature Communications 2015)

Herausgefunden haben die Forschenden dies in Zellkultur. Zusammen mit der Gruppe von Andreas Hierlemann, Professor für Biosystems Engineering, entwickelten sie eine Art Mikronagelbrett aus Kunststoff. Zwischen den «Nägeln» (oder besser: Säulen) liessen sie Epithelzellen wachsen. Unter dem Mikroskop konnten die Forschenden beobachten, wie sich die Zellen verhalten.

Testumgebung für Krankheiten

Hemmten die Wissenschaftler die Ionentransportproteine der Zellen in ihrer Aktivität, konnten sie beobachten, dass der Salzhaushalt der Zellen nicht nur für die Formänderung zur Kugel verantwortlich ist. Auch das «Herauszwängen» aus der Epithelschicht hing davon ab. Ausserdem konnten die Wissenschaftler über die Auslenkung der Kunststoffsäulen berechnen, welche Kräfte die Zellen für ihre Wanderung an die Epitheloberfläche erzeugen.

Das Mikronagelbrett dient den Forschenden schliesslich auch als Testumgebung für bestimmte Krankheiten. Beispielsweise ist bekannt, dass Epithelzellen, die zur Zellteilung nicht an die Oberfläche der Epithelschicht gelangen und sich dadurch nicht ungestört teilen können, eine Ablösung der Epithelschicht verursachen können. Dies kann zur Entstehung und Ausbreitung von Tumoren führen, etwa im Magen, Darm, in der Niere oder Galle. «Mit unserem mikroskopischen ‹Nagelbrett› können wir nun untersuchen, unter welchen Bedingungen Zellen sich nicht mehr an die Oberfläche hieven können», erklärt Müller. Man habe bereits damit begonnen, in dieser Testumgebung nach den genetischen Ursachen für einige Krankheiten zu suchen. Ausserdem könne man damit die Wirksamkeit neuer Medikamente testen.

Literaturhinweis

Sorce B et al.: Mitotic cell contract actomyosin cortex and generate pressure to round against or escape epithelial confinement. Nature Communications, 25. November 2015, doi: externe Seite10.1038/ncomms9872

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