Wie die Schweiz das Ranking erfand und zur Wissenschaftsnation wurde

Seit dem 18. Jahrhundert prägt der internationale Erfolg der Naturforschung das Bild der Schweiz im Ausland entscheidend mit. Bernhard Schär und Lea Pfäffli, zwei Historiker der ETH Zürich haben deren Geschichte untersucht.

Vergrösserte Ansicht: Der Schweizer Polarforscher Alfred de Quervain 1912 in Grönland. (Bild: Bildarchiv der ETH-Bibliothek)
Der Schweizer Polarforscher Alfred de Quervain mit seiner Gruppe 1912 auf dem höchsten Punkt des Inlandeises in Grönland. (Bild: Bildarchiv der ETH-Bibliothek)

In Ihrem Buch «Die Naturforschenden» schreiben Sie, dass die Schweiz seit dem 18. Jahrhundert als eine der erfolgreichsten Wissenschaftsnationen gelte. Was sind die historischen Gründe für diesen Erfolg?
Bernhard Schär: Das ist für Historiker schwierig zu beantworten, denn das hängt davon ab, wie «Erfolg» definiert wird. Diese Definitionen sind dem historischen Wandel unterworfen. Was wir als Historiker sagen können, ist: Die Geschichte der wissenschaftlichen Erfolgsdefinitionen und Wissenschaftsrankings hat erstaunlich viel mit der schweizerischen Wissenschaftsgeschichte zu tun.

Wie meinen Sie das?
Bernhard Schär: Es war ein Genfer Botaniker, der 1873 das erste Wissenschaftsranking der Geschichte veröffentlichte. In seiner «Histoire des Sciences» stellte sich Alphonse de Candolle die Frage, wie man wissenschaftlichen Erfolg objektiv bestimmen kann. Um das zu beantworten, schaute er sich an, wen die führenden wissenschaftlichen Akademien wie beispielsweise die französische Académie des Science oder die Royal Society zu ihren Ehrenmitgliedern ernannt hatten. Auf diese Weise gewann er einen Datensatz, der sich von der Gründung der Royal Society 1660 bis ins Jahr 1870 erstreckte.

Und was ergab seine Untersuchung?
Bernhard Schär: Die Akademien hatten seit dem 17. Jahrhundert überdurchschnittlich oft Schweizer Forscher zu Ehrenmitgliedern ernannt. Die Schweiz, die damals nur rund ein Prozent der europäischen Bevölkerung umfasste, stellte rund zehn Prozent der Ehrenmitglieder. Gewichtet nach der Bevölkerungszahl stand die Schweiz also unangefochten an der Spitze des Rankings.

War den Zeitgenossen von Alphonse de Candolle die internationale Bedeutung der Naturwissenschaften bewusst?
Bernhard Schär: Nein, er war der erste, der empirisch feststellte, wie stark die Schweiz in den internationalen Wissenschaften vertreten war. Wobei darin natürlich auch der aufziehende Nationalismus mitspielte. Andere Länder haben mit anderen Kriterien andere Rankings erstellt, in denen dann sie oben aus schwangen.

Lea Pfäffli: Die Rede davon, dass die Schweiz eine sehr erfolgreiche Wissenschaftsnation sei, setzte im 19. Jahrhundert ein und hält sich bis in die Gegenwart. In der Phase des Kalten Kriegs war auch der Neutralitätsgedanke ein starkes Motiv. Schweizer Naturforscher verstanden sich selbst als objektive, neutrale Forscher, die sich aus der Politik heraushalten und nur der Wissenschaft verpflichtet sind. Neutralität war ein Verkaufsargument und Türöffner für die Schweizer Wissenschaftler.

Haben Sie ein Beispiel dafür?
Lea Pfäffli: Robert Haefeli, Professor für Schneekunde an der ETH Zürich, initiierte in den 1950er-Jahren die «Internationale Grönlandexpedition». Rund 70 Wissenschaftler und Techniker forschten während drei Jahren auf der Insel. Aus Haefelis Berichten geht hervor, dass er sich berufen fühlte, dieses internationale Grossunternehmen zu leiten. Die schweizerische Neutralität sei eine ideale Voraussetzung dafür, die ehemaligen Kriegsgegner Deutschland und Frankreich auf dem Polareis zusammenzuführen. Ausgeblendet hat er, dass Grönland ein Labor des Kalten Krieges war. Amerikaner und Russen stationierten Abwehrraketen in der Arktis. Die «neutralen» Schweizer Wissenschaftler nutzten die Infrastruktur der US-Armee und die Amerikaner setzten im Bau stadtähnlicher, unterirdischer Anlagen in Grönland auf die glaziologische Expertise der Schweizer.

Das Bildarchiv der ETH-Bibliothek hat ein Foto, das einen anderen Polarforscher, Alfred de Quervain, mit seiner Gruppe und einer wehenden Schweizer Flagge zeigt…
Lea Pfäffli: Dieses Foto zeigt die Grönlandüberquerung, die der Schweizer Geophysiker und Arktisforscher Alfred de Quervain 1912 leitete. Die Expedition fiel in die Zeit des kolonialen Wettlaufs um die Polargebiete. Zwar forschte auch de Quervain global vernetzt, doch das Terrain, das er bereiste, steckte er symbolisch mit der Schweizer Fahne ab. Er taufte sogar ein ganzes Gebiet in Grönland «Schweizerland». Solche kolonialen Gesten finden sich auch bei Schweizer Forschern in Asien oder Afrika. Als Abenteuererzählungen liessen sie sich in der Heimat übrigens gut vermarkten.

Solche Mechanismen der internationaler Zusammenarbeit bei gleichzeitigem Wettbewerb spielen doch bis heute: Bei den ERC Grants beispielsweise vergleicht man auch, wie viele die Schweiz im Vergleich zu anderen Ländern gewinnt.
Bernhard Schär: Die Kriterien, was eine erfolgreiche Wissenschaftsnation ausmacht, haben sich natürlich seit dem 19. Jahrhundert geändert. Geblieben ist aber tatsächlich die Gleichzeitigkeit von Kooperation und Konkurrenz innerhalb eines internationalen Wissenschaftssystems. Die Schweizer Naturwissenschaft ist bis heute aktiv in die internationalen Netzwerke eingebunden – so auch in etlichen Projekten im globalen Süden.

Bernhard C. Schär ist Postdoktorand an der Professur für die Geschichte der modernen Welt an der ETH Zürich. Seine Forschungsinteressen betreffen die Wissenschafts- und Kolonialgeschichte, Globalgeschichte der Schweiz. Zuletzt publizierte er über Schweizer Naturforscher während des Niederländischen Imperialismus in Sudostasien um 1900.

Lea Pfäffli ist Doktorandin an der Professur für Technikgeschichte. Ihre Forschungsinteressen betreffen die Geschichte der Polarforschung, deren materielle Kultur und globale Zirkulation. Zuletzt arbeitete sie an einer Ausstellung zur Wissensgeschichte der Germanistik.

Vergrösserte Ansicht: Bernhard Schär und Lea Pfäffli vom Institut für Geschichte der ETH Zürich. (Bild: ETH Zürich/Florian Meyer).
Haben die Geschichte von Naturforschenden der Schweiz untersucht: Bernhard Schär und Lea Pfäffli vom Institut für Geschichte der ETH Zürich. (Bild: ETH Zürich/Florian Meyer)

Die Naturforschenden

Vergrösserte Ansicht: Die Naturforschenden. (Bild: ETH-Bibliothek/Hier+Jetzt)
Die Natur- forschenden. (Bild: ETH- Bibliothek / Hier + Jetzt)

In den vergangenen 200 Jahren haben die Schweizer Naturforschenden grenzüberschreitend die Welt erkundet und zur globalen Vernetzung des Wissenschaftsstandorts Schweiz beigetragen.

15 Historikerinnen und Historiker beleuchten nun in einem Buch mit Biografien die noch wenig bekannte Geschichte der Schweizer Naturwissenschaften. Entstanden ist das Buch aus einem Forschungsprojekt der Professur für Technikgeschichte der ETH Zürich und aus Anlass des externe SeiteJubiläums der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz.

Patrick Kupper & Bernhard C. Schär (HG.). Die Naturforschenden. Auf der Suche nach Wissen über die Schweiz und die Welt, 1800–2015. Hier und Jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte, Baden, 2015, 308 Seiten.

 

Naturwissenschaften erlebbar nah

Vergrösserte Ansicht: Einsichten zu Zeit und Wandel. (Bild: SCNAT)
Einsichten zu Zeit und Wandel. (Bild: SCNAT)

Die Akademie der Naturwissenschaften Schweiz (SCNAT) feiert ihr 200 Jahr-Jubiläum unter dem Motto «Naturwissenschaften erlebbar nah»: bis zum Samstag, 15. August 2015 gibt es an verschiedenen Schauplätzen in Zürich Installationen, Führungen und Vorlesungen zur Welt der Naturwissenschaften.

Das externe SeiteProgramm umfasst auch Führungen und Vorlesungen an der ETH Zürich, zum Beispiel in der externe Seiteentomologischen Sammlung, bei externe SeitefocusTerra, über das externe SeiteErdbebenland Schweiz, im externe SeiteBildarchiv der ETH-Bibliothek, oder über externe SeiteQuarks, Higgs und Leptonen.

Für ein persönliches Erleben der Wissenschaft gibt es zudem den externe SeiteScienceGuide, die App für naturwissenschaftliche Angebote, zum Herunterladen.

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