Wachstum – bisher und künftig

Zeitungen und «gewichtige» Stimmen aus Politik und Wirtschaft beklagen den ökonomischen Kriechgang in fast allen Ländern der westlichen Welt. Höheres wirtschaftliches Wachstum wird allenthalben gefordert. Doch die hohen Zuwachsraten von einst sind heute illusorisch – gefordertes und reales Wachstum klaffen zunehmend auseinander.

Vergrösserte Ansicht: Wachstumskurve
(Bild: iStock)

Eine wachsende Wirtschaft gilt bisher als wichtiger Indikator für den ökonomischen Erfolg eines Landes, weil Wachstum das Potenzial zugeschrieben wird, Wohlstand zu sichern und zentrale gesellschaftliche Probleme zu vermeiden (siehe dazu auch meinen ersten Blogbeitrag). Fehlt Wachstum, entstehen Krisen. Hohe Wachstumsraten werden deshalb als notwendig erachtet und unablässig gefordert. Doch die Erwartungen decken sich nicht mit der Realität. Das zeigt ein Blick auf die Wachstumsstatistiken verschiedener Länder einschliesslich der Schweiz.

Exponentielles Wachstum

Was bedeutet es, wenn wir von konstanten oder steigenden Wachstumsraten sprechen? Eine jährliche Wachstumsrate von beispielsweise ein oder zwei Prozent über mehrere Jahre bedeutet exponentielles Wachstum. Dabei beschleunigt sich das absolute Wachstum – der Zuwachs wächst. Aus der Biologie wissen wir, dass exponentielles Wachstum dauerhaft nicht möglich ist. Exponentielles Wachstum ist auch in Gesellschaft und Ökonomie mittelfristig schwer vorstellbar. Es bedingt, dass wir immer mehr produzieren, konsumieren und investieren müssten – nicht nur gleich viel mehr wie im Vorjahr (was linearem Wachstum entspräche), sondern ständig zusätzlich mehr.

Die ökonomische Realität

Um die Wirtschaftskraft eines Landes zu messen, wird das Bruttoinlandprodukt BIP verwendet. Es beschreibt den Wert aller Produkte und Dienstleistungen, die in einem Jahr produziert und auf dem Markt gehandelt werden. Das reale BIP-Wachstum der Schweiz verlief in den letzten 50 Jahren nicht exponentiell, sondern linear, wie nachfolgende Graphik für das BIP/Kopf zeigt. Dasselbe gilt für das gesamtökonomische Wachstum (also das Wirtschaftswachstum der Schweiz), allerdings auf etwas höherem Niveau (für Deutschland siehe [1]).

Vergrösserte Ansicht: Schweizer BIP-Wachstum / Kopf
Das reale Wachstum des Schweizer Bruttoinlandproduktes BIP / Kopf seit den 60er Jahren. Zum Vergleich die Wachstumskurven mit verschiedenen Raten. (Quelle: [2])

Dass die Wirtschaft linear wuchs, zeigt auch der Blick auf einzelne Perioden des Wachstums des Schweizer BIP von 1961 bis 2013 (siehe Tabelle): Zu Beginn der Periode (1961 – 1965, Zeile a) waren die Raten deutlich höher als in den jüngsten Jahren (2009 – 2013, Zeile b), doch das absolute Wachstum in den beiden Zeitschnitten unterscheidet sich kaum. Der Grund für die unterschiedlichen Raten ist, dass sie heute wegen des hohen Ausgangsniveaus geringer ausfallen als früher. Weiter zeigen die Raten des gesamtökonomischen BIP-Wachstums und des Pro-Kopf-Wachstums, dass die Schweizer Wirtschaft in den letzten Jahrzehnten ohne deutliche Bevölkerungszunahme weniger gewachsen wäre. Insbesondere pro Kopf wächst das BIP nur noch bescheiden. Dabei unterscheidet sich die Schweiz kaum von Nachbarländern.

Vergrösserte Ansicht: Schweizer Wachstumszahlen
Ausgewählte Wachstumszahlen für die Schweiz. Die gewählten Zeiträume ergeben sich aus der Datenverfügbarkeit. (Quelle: [2])

Anhaltende Wachstumsdebatte

Ich habe bereits angesprochen, dass exponentielles Wachstum auf Dauer nicht möglich ist. Doch immer wieder hört man das Gegenteil, wie kürzlich von economiesuisse: Der Verband identifizierte sieben Wachstums-mythen. Einen Mythos beschreibt der Verband folgendermassen: «Exponentielles Wirtschaftswachstum ist langfristig nicht möglich» [3].

Gegen solche Aussagen lassen sich verschiedene Theorien und Argumente einwenden: Der amerikanische Ökonom R.J. Gordon meint, dass die Wachstumsdynamik der Nachkriegszeit durch grundsätzliche Erfindungen des 18. und 19. Jahrhunderts (Sanitärsystem, Elektrizität, Antibiotika, Dampfmaschinen und Benzinmotoren etc.) bestimmt war, und spätere Erfindungen kein solches Wachstumspotential mehr bergen [4]. Der französische Ökonom J. Gadrey beobachtet, dass die Produktivitätszuwächse der Wirtschaft rückläufig sind, auch weil sich Ökonomien zunehmend in Richtung Dienstleistung entwickeln [5]. Bonaiuti (2014) begründet die rückläufigen Produktivitätszuwächse mit den immer komplexeren ökonomischen und gesellschaftlichen Systemen [6]. Und schliesslich sind die ökologischen Grenzen zu nennen. Die biotischen und abiotischen Ressourcen sind begrenzt, wie auch die Fähigkeit der Ökosysteme, sich zu erneuern. Der sogenannte Overshoot-Day ist bereits im August – der Tag im laufenden Jahr also, an dem die biotischen Ressourcen, die während eines Jahres nachwachsen, verbraucht sind. Der Aufwand, etwa um Ressourcen zu gewinnen und zu verarbeiten, nimmt zu, die Produktivität sinkt. Die Preise steigen, Wachstum wird gebremst.

Wie geht es weiter mit dem Wachstum?

Die oben genannten Zahlen und Fakten lassen davon ausgehen, dass wir auch künftig kein exponentielles Wachstum haben werden, sondern höchstens ein lineares. Und lineares Wachstum bedeutet rückläufige Wachstumsraten. Deshalb scheint die Forderung nach einem zweiprozentigen Wachstum auf Pro-Kopf-Ebene gänzlich unrealistisch – zwei Prozent werden oft gefordert, weil ungefähr dann die Arbeitslosigkeit nicht zunehmen sollte und die öffentlichen Haushalte bislang mit dieser Wachstumsrate rechnen. Selbst die Schweizer Wirtschaft als Ganzes wird eine solche Rate kaum mehr längerfristig erreichen, denn hohe Einwanderung und ein sehr günstiges ökonomisches Umfeld sind zunehmend unwahrscheinlich. Modelle des seco sagen mittel- und langfristig ein sehr niedrigeres Potentialwachstum voraus [7].

Konzepte oder gar Lösungen, wie Ökonomien ohne Wachstum funktionieren können, sind (noch) wenig vorhanden und noch weniger verbreitet. Wir sollten uns ernsthaft die Frage stellen, wie wir unsere Gesellschaft und Wirtschaft gestalten wollen, wenn es kein oder kaum mehr Wachstum gibt.

Vergrösserte Ansicht: Wachstumsraten westliche Länders
Wachstumsraten des realen BIP pro Kopf verschiedener Länder. * bis 1989 nur Westdeutschland; der Einbruch Deutschlands in den 90er-Jahren ergibt sich durch die Wiedervereinigung. (Quelle: [2])

Weiterführende Informationen

[1] Institut für Wachstumsstudien (2013). Kernaussagen des externe SeiteInstituts für Wachstumsstudien. 3. Edition (2013)

[2] Zahlen von der Ameco-Datenbasis (BIP-Werte in Preisen von 2005), Stand Oktober 2014.

[3] Economiesuisse (2014). externe SeiteMythen, Fakten und Denkanstösse zur wirtschaftlichen Entwicklung der Schweiz, Zürich.

[4] Gordon, R. J. (2012). Is U.S. Economic Growth Over? Faltering Innovation Confronts the Six Headwinds. NBER Working Papers 18315. National Bureau of Economic Research, Inc.

[5] Gadrey, J. (2011). Adieu à la croissance. Paris: Les Petits Matins.

[6] Bonaiuti, M. (2014). The Great Transition. London and New York: Routledge Studies in Ecological Economics.

[7] Surchat (2011). Langfristige Szenarien für das BIP der Schweiz. Die Volkswirtschaft(6): 9-12.

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