Transformation einer Strasse geübt

Wie soll ein Abschnitt der Calle 30 in der kolumbianischen Küstenstadt Barranquilla im Jahr 2035 aussehen? 24 Studierende aus vier Departementen der ETH Zürich und der Universidad del Norte widmeten sich dieser Frage während einer interkulturellen und transdisziplinären Lehrveranstaltung, die von Innovedum gefördert wurde.

Vergrösserte Ansicht: Studierende interviewen einen Einheimischen, um mehr über die Calle 30 zu erfahren. (Bild: zVg TdLab / ETH Zürich)
Studierende interviewen einen Einheimischen, um mehr über die Calle 30 zu erfahren. (Bild: zvg / TdLab / ETH Zürich)

Viele mittelgrosse lateinamerikanische Städte stehen vor grossen Herausforderungen: Ihre Bevölkerung und damit der Ressourcenbedarf wachsen mit zuvor unerreichten Wachstumsraten. Eine solche Stadt ist Barranquilla, mit 1,3 Millionen Einwohnern die viergrösste Kolumbiens. Die Stadt ist zu einem der wichtigsten Warenumschlags- und Handelsplätze Kolumbiens geworden und wächst rasch und ungeordnet.

Barranquilla ist deshalb in ein Programm der Interamerikanischen Entwicklungsbank aufgenommen worden, das sich mit der nachhaltigen urbanen Entwicklung aufstrebender Städte befasst. Unterstützt wird dieses Programm auch vom Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco). Die Stadt an der Karibikküste bot sich deshalb als ein ideales «Übungsfeld» für Studierende und Dozierende der ETH Zürich und der Universidad del Norte Barranquilla an, die anhand der Summer School «Avenues in the Tropics» die urbane Entwicklung eines Stadtteils studierten.

Lebhafte Strasse transdisziplinär betrachtet

Im Rahmen der Lehrveranstaltung beschäftigten sich 24 Studierende der beiden Hochschulen mit dem heutigen Zustand und einer möglichen künftigen Entwicklung eines Abschnitts der Calle 30, einer mehrspurigen Strasse, die sich durch die Stadt erstreckt und an dessen Saum sich ein lebhafter Stadtmarkt von regionaler Bedeutung etabliert hat.

Vergrösserte Ansicht: Studentinnen vermessen öffentliche Räume entlang der Calle 30.
Studentinnen vermessen öffentliche Räume entlang der Calle 30. (Bild: zvg / TdLab / ETH Zürich)

Die Aufgabe bestand darin, dass sich die Studierenden erst mit der Methodik, die das Transdisciplinarity Lab (TdLab) der ETH Zürich entwickelt hatte, vertraut machten und vor Ort mithilfe dieser Herangehensweise Szenarien erarbeiten, wie die Strasse im Jahr 2035 aussehen könnte. Ihre Vorschläge stellten sie lokalen Anspruchsgruppen wie Behörden und Verwaltung, Entwicklungs- und Wirtschaftspartnern vor. Diese wurden gebeten, die Szenarien bezüglich der gewünschten Vision für die Stadt zu beurteilen und gegeneinander abzuwägen. Nachfolgend wurden diese Beurteilungen den Entscheidungsträgern, welche die Zukunft Barranquillas prägen, unterbreitet und mit ihnen diskutiert. Dieser letzte Schritt war gemäss Pius Krütli, Ko-Leiter des TdLab, sehr wichtig: «Davon erhofft man sich, dass wissenschaftliche Erkenntnisse schneller und effektiver bei den Entscheidungsträgern ankommen.»

Flexibilität gefordert

Eine ziemliche Herausforderung, wie die Summer School-Tutoren darlegen: «Das, was die Studierenden in Barranquilla angetroffen haben, ist weit weg von dem, was wir im sauberen und durchregulierten Zürich vorfinden», sagt Alice Hertzog, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl «Architecture and Urban Design».

Der Mikrokosmos dieses Strassenzugs konzentriert auf engstem Raum viele der Herausforderungen, die sich der gesamten Stadt stellen: ungenügendes Wasser- und Abwassermanagement, schlecht unterhaltene öffentliche Plätze, ein tägliches Verkehrschaos und – als besonderes Problem – die informelle Nutzung von Gehsteigen und Seitenstrassen durch (fliegende) Händler. Der Strassenzug hat bei Teilen der Bevölkerung Barranquillas den Ruf eines schlecht gemanagten Marktplatzes und wird entsprechend gemieden.

Sehr produktive Arbeitsgruppen

Vergrösserte Ansicht: Die vier Szenarien für die künftige Entwicklung reichen von Wirtschaftszentrum (o.l.) über Flanier- und Einkaufsmeile (r.o.) bis hin zu einer grünen Ader (r.u.) und umfassen auch Business as usual aber unter verbesserten Bedingungen. (Visualisierungen: Studierende Summer School)
Szenarien für die Entwicklung der Calle 30: Wirtschaftszentrum (o.l.), Flanier- und Einkaufsmeile (r.o.), grüne Ader (r.u.) und Business as usual unter verbesserten Bedingungen. (Visualisierungen: Studierende Summer School)

Die ETH-Studierenden bildeten mit Kommilitonen aus Barranquilla Gruppen, um die Situation zu erfassen und führten mit Gewerbetreibenden, Hausbesitzern, Marktfahrern und Anwohnern Interviews. Zudem vermassen sie die öffentlichen Räume und beobachteten den Verkehrsfluss. Ausgehend von diesen Informationen entwickelten sie in einem methodisch anspruchsvollen, strukturierten Vorgehen und mit Beteiligung von lokalen Experten vier Szenarien für die Zukunft der Calle 30: eines, das das Schwergewicht auf den Ausbau der Grünflächen legte, eines, das die wirtschaftliche Seite stärker gewichtete, eines, das aus der Calle 30 eine Flanier- und Einkaufsmeile macht, und eines, das die heutige Situation der Strasse als Marktplatz verbessert.

Bleibende Eindrücke auf allen Seiten

ETH-Architekturprofessor Hubert Klumpner, der zusammen mit seinem Partner Alfredo Brillembourg Barranquilla als Fallbeispiel nach eingehender Evaluation der Möglichkeiten ausgewählt hat, ist wie die Tutoren Pius Krütli und Alice Hertzog über den Ausgang der Summer School sehr erfreut. Für ihn war die methodische Herangehensweise neu, «es war ein Experiment, da ich mit der Methodik des TdLab zuvor nicht vertraut war.» Im Gespräch mit Vertretern des TdLabs sei ihm aber rasch klar geworden, dass diese Methodik für Fallstudien auch für den Bereich der urbanen Entwicklung äusserst gut geeignet sei. «Wir entwickeln solche Varianten meist im Wettbewerbsmodus. Bei der Methode des TdLabs steht die Beteiligung aller Anspruchsgruppen über die fachlichen und Standesgrenzen hinweg im Zentrum», erklärt Klumpner.

Auch von studentischer Seite ist das Echo zu dieser Lehrveranstaltung positiv. Elias Estermann, Masterstudent der Umweltnaturwissenschaften mit Vertiefung Mensch-Umwelt-Systeme, ist stolz auf das, was die Teilnehmenden in der kurzen Zeit erreicht haben. Als wichtige Lernerfahrung nahm er mit, dass «unser Schaffen einen echten Impact auf reale Probleme haben kann.» Die lokalen Stakeholder seien sehr offen für Neues gewesen. Am meisten habe ihn das Interesse an der Abschlusspräsentation beeindruckt. Daran hätten hochrangige Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Kultur teilgenommen, aber auch Leute aus der lokalen Bevölkerung.

Thema Barranquilla wird weiterverfolgt

Ihn und drei weitere Teilnehmerinnen und Teilnehmer hat das Thema Barranquilla nicht mehr losgelassen, und sie arbeiten in ihren Masterarbeiten daran weiter. «Eine der kolumbianischen Studentinnen war von dieser Lehrveranstaltung so begeistert, dass sie am Ende sagte, sie wolle Bürgermeisterin der Stadt werden, um die angestossene Entwicklung voranzutreiben», schmunzelt Alice Hertzog. Die Veranstaltung hat überdies zu einer vielversprechenden Kollaboration mit der Universidad del Norte geführt. Manuel Moreno, Vorsteher des Departements Architektur, möchte die Zusammenarbeit mit der ETH Zürich weiter ausbauen. Architekturprofessor Fabian Amaya ist überzeugt von der methodischen Herangehensweise, welche die ETH mitbrachte und plant, die Methodik in Architektur-Kursen zu implementieren.

Freuen dürfen sich im Übrigen weitere Studierende der beteiligten ETH-Departemente: Die Organisatoren der Summer School Barranquilla bieten im Sommer 2015 wieder eine an. Und aufgrund des Erfolgs und des regen Interesses seitens der Studierenden haben das TdLab und der Lehrstuhl Brillembourg & Klumpner beschlossen, einen gemeinsamen Semesterkurs aufzubauen.

Summer School Barranquilla

Vom 28.6. bis 11.7.2014 fand zum ersten Mal eine Summer School in Barranquilla zum Thema urbane Entwicklung statt. Diese Lehrveranstaltung wurde vom Transdisziplinary Lab (TdLab) des Departments Umweltsystemwissenschaften und dem Department Architektur entwickelt. Die teilnehmenden Studierenden stammten aus den Departementen Umweltsystemwissenschaften (D-USYS), Architektur (D-ARCH), Bau-, Umwelt- und Geomatik (D-BAUG) sowie Maschinenbau und Verfahrenstechnik (D-MAVT) sowie von der Universidad del Norte Barranquilla. Unterstützt wurden die Organisatoren von Innovedum, der Stelle des Rektors, die besondere Lehrprojekte fördert. Beratend standen ihnen auch der Stabsbereich Lehrentwicklung und -technologie (LET) der ETH und Peter Edwards, Direktor des Singapore-ETH-Centre (SEC) zur Seite.

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