Mit Innovation gegen Kostenexplosion im Gesundheitswesen

Am «ETH-Gesundheitsgespräch» diskutierten Forscher mit Vertretern aus Wirtschaft, Verwaltung und Verbänden über die Herkulesaufgabe, das Schweizer Gesundheitswesen zukunftsfähig zu machen. Gefordert wurden mehr Transparenz, mehr interdisziplinäre Forschung und eine bessere Datengrundlage.

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Teilnehmende an der Podiumsdiskussion v.l.n.r: Ruth Humbel und Prisca Birrer-Heimo, Oliver Peters, Jörg Reinhardt, Gregor Zünd, Prof. Markus Rudin und Moderator Beat Glogger. (Bild: Frank Brüderli / ETH Zürich)

Zum fünften Mal lud die ETH Zürich die Öffentlichkeit zum Gespräch über ein aktuelles gesellschaftspolitisches Thema ein. Nach den Themen Klima, Energie, Wasser und Raumplanung war diesmal das Schweizerische Gesundheitswesen an der Reihe. Rund 300 Entscheidungsträger aus Wirtschaft, Politik und öffentlicher Verwaltung, Forschende, Studierende und interessierte Laien folgten der Einladung der ETH diesmal.

Die aktuellen Herausforderungen im Gesundheitsbereich sind gigantisch: Dank den Fortschritten in der Medizin werden wir immer älter. Dadurch steigt der prozentuale Anteil der Bevölkerung, der am meisten Therapien und Pflege benötigt. Die Gesundheitskosten explodieren. Innovationen im Medizinbereich sind deshalb dringend gefragt. Die ETH Zürich trägt mit Forschung am externe SeiteZentrum Hochschulmedizin Zürich (HMZ) mit den beiden Partnern Universität und Unispital Zürich zu solcher Innovation bei. Zudem startete 2011 der neue Studiengang Gesundheitswissenschaften und Technologie. 800 Studierende haben sich seither dafür eingeschrieben.

Zuviel Food, zuwenig Bewegung

Im ersten Teil der Veranstaltung präsentierten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen der ETH Zürich und der Hochschulmedizin Zürich neueste Forschungserkenntnisse aus den Bereichen Prävention, Diagnostik und Therapie. Wolfgang Langhans, Professor für Physiologie und Verhalten, führte zu Beginn mit einer Zahl in die unschöne Kostenrealität ein: 2001 betrugen die direkten und indirekten gesellschaftlichen Kosten von Adipositas (Fettleibigkeit) in der Schweiz zwei Milliarden Franken; 2006 waren es bereits 5,8 Milliarden Franken. Die Ursachen für den Anstieg von chronischen Krankheiten, wie Typ-2-Diabetes und adipöse Krankheiten sind laut Langhans rasch gefunden: «Wir essen zu viel und bewegen uns zu wenig». Prävention statt Kostenexplosion forderte er deshalb. Resultate aus weiteren interdisziplinären Forschungsarbeiten der ETH Zürich zeigen, dass mit einer geringfügigen Verhaltensänderung wie dem Schöpfen von kleineren Portionen sowie mehr Gemüseauswahl in Kantinen schon viel gewonnen wäre.

Markus Rudin, Professor für Molekulare Bildgebung und funktionelle Pharmakologie, leitete in die neusten Entwicklungen in der Diagnostik über, insbesondere in bildgebende Verfahren, wie Magnetresonanztomographie (MRI). Rudin erläuterte, wie mehrere Teams der Hochschulmedizin Zürich die Bildgebung vor allem schneller, empfindlicher, präziser und «biologischer» machen wollen. Unter letzterem versteht er die Übersetzung von Messergebnissen von einer Ingenieurs- in eine Medizinersprache. Die Experten waren sich einig, dass dies eine der grossen Herausforderungen ist, je mehr sich Ingenieurswissenschaften und Medizin annähern.

Neue Antibiotika und Therapieroboter

Der Beitrag von Annette Oxenius, Professorin für Immunologie, zeigte anschaulich, wie Antibiotika und Impfungen in Zukunft zu verbessern wären, aber auch welche Risiken damit verbunden sind. Antibiotika oder antivirale Medikamente werden einerseits als Erfolgsgeschichte zur Behandlung einer Vielzahl von Infektionskrankheiten gefeiert. Andererseits gefährden Resistenzen diese Erfolge zunehmend und neue Erreger wie SARS oder rasch mutierende Erreger wie die jährlich veränderten Grippeviren verursachen ständig neue Kosten bei der Entwicklung wirksamer Impfstoffe. Verschiedene Arbeitsgruppen am Institut für Mikrobiologie der ETH Zürich suchen deshalb nach neuen und effizienten Wirkstoffen zum Beispiel nach einem generellen Grippeimpfstoff, der auf alle Grippeviren anspricht und somit nicht jedes Jahr neu entwickelt werden muss.

Schliesslich gab Robert Riener, Professor für Sensomotorische Systeme, einen bildreichen Überblick, wie heute Roboter in der Therapie eingesetzt werden. Zum Beispiel, indem sie teilgelähmte Patienten nach einem Schlaganfall dabei unterstützen, Bein- oder Armbewegungen neu zu erlernen. Laut Riener liegen heute Patienten im Spital durchschnittlich 90 Prozent der Zeit im Bett, obwohl Bewegung für ihre Genesung entscheidend wäre. Hier soll der Roboter einspringen und personelle Engpässe kompensieren. Durch Kopplung mit interaktiven Computerspielen kann gleichzeitig der Spass an den Bewegungsübungen erhöht werden.

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Die ETH-Professoren Markus Rudin, Robert Riener, Wolfgang Langhans und Annette Oxenius (v.l.n.r) bei der lebhaften Diskussion mit ihren «Challengern». (Bild: Frank Brüderli / ETH Zürich)

Innovationen ohne Kostensteigerung

ETH-Präsident Ralph Eichler plädierte in seiner Eröffnungsrede des zweiten Veranstaltungsteils für die Paarung von Ingenieurdenken und Medizinverständnis. «Ohne Prozessinnovationen im Gesundheitswesen könnten wir uns Produktinnovationen bald nicht mehr leisten», sagte er. Innovation ohne Kostensteigerung bei den Produkten müsse deshalb auch im Medizinbereich das Ziel sein, genauso, wie dies bei Computern schon lange der Fall sei.

In zwei Podiumsdiskussionen wurde gestern die Rolle der Wissenschaft für ein zukunftsfähiges Schweizer Gesundheitssystem von Vertreterinnen und Vertretern der Krankenkassen, der Pharma, des Bundes, des Patienten- und Konsumentenschutzes und der Forschung kritisch beleuchtet. Eine vielfach genannte Sorge betraf die Unabhängigkeit und Transparenz von wissenschaftlichen Ergebnissen. Die medizinische Forschung müsse für den Patienten unbedingt glaubwürdig bleiben, so Prisca Birrer-Heimo, Nationalrätin und Präsidentin der Stiftung für Konsumentenschutz. Die Nähe von Hochschulen und Wirtschaft zum Beispiel im Rahmen der Finanzierung von Lehrstühlen drohe das Vertrauen in die Wissenschaft zu untergraben.

Weiter wurde mehr «Ganzheitlichkeit» und interdisziplinäre Forschung in der Medizin gefordert. Diesen Aspekt unterstützten auch Jörg Reinhardt, Verwaltungsratspräsident von Novartis, sowie Gregor Zünd, Direktor Forschung und Lehre am Universitätsspital Zürich. Eine enge Zusammenarbeit zwischen Forschung und Industrie war für beide eine wichtige Grundlage zu Sicherung eines zukunftsfähigen Gesundheitswesens. Dabei sollten jedoch auch Sozialwissenschaften heute früher und intensiver an Forschungsprojekten beteiligt werden, forderte Tanja Krones vom Klinischen Ethikkomitee des Universitätsspitals Zürich. Um das Gesundheitswesen effizienter zu gestalten, sei nicht nur medizinisches Wissen, sondern auch solches aus Soziologie, Ethik und Ökonomie nötig, betonte Barbara Züst vom der Stiftung Pateintenschutz.

Eine weitere vielgenannte Forderung betraf die Verbesserung der Datengrundlage, anhand derer das Gesundheitssystem reformiert werden könnte. Hier bestünde ein grosses Potenzial zur Verbesserung unseres Gesundheitswesens, waren sich Verena Nold, Direktorin von Santésuisse und Nationalrätin Ruth Humbel, einig. Beide sprachen sich deshalb vehement für ein elektronisches Patientendossier aus. Sie machten aber auch auf die Schwierigkeit der politischen Durchsetzung und die Ängste von Patienten und Ärzten aufmerksam.

Ruf nach «Versorgungs-Forschung»

Bessere Daten und einheitliche Register gehören auch zu den Prioritäten des Bundes in der Strategie «Gesundheit 2020», wie Oliver Peters, Vizedirektor des Bundesamts für Gesundheit, erklärte. Zudem sei mehr Wissen über die Koordination zwischen Spitälern, Ärzten und Krankenkassen gefragt. Zum Beispiel wisse man zuwenig über ambulante Behandlungen oder die ökonomischen und gesundheitlichen Konsequenzen von Verlegungen. Hier sei sogenannte Versorgungsforschung gefragt, so Peters. Dadurch würde eine Grundlage geschaffen für die Standardisierung von Prozessen, für Effizienzsteigerungen und Einsparungen, ohne Abstriche bei der Versorgung der Patienten machen zu müssen.

Die Podiumsteilnehmer waren sich einig, dass der Dialog zwischen allen Akteuren des Gesundheitswesens unbedingt weitergeführt und intensiviert werden müsse. Nur so könne garantiert werden, dass Innovation nicht den Nutzen für den Patienten und die Relation für das finanziell Machbare aus den Augen verliere. Mit dem Gesundheitsgespräch der ETH Zürich war dafür ein wichtiger Anfang gemacht.

Bilder und Präsentationen des Gesundheitsgesprächs 2014

Auf der Webseite des Gesundheitsgesprächs sind sämtliche Präsentationen der Forscherinnen und Forscher verfügbar. Auf der Webseite ist zudem eine Videoaufzeichnung der Veranstaltung und eine Bildgalerie mit Impressionen vom Event zu finden.

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