Unfall nach 88 Jahren dank Gletschersimulation geklärt

Im März 1926 kehrten vier junge Männer nicht mehr von ihrer Skitour auf dem Grossen Aletschgletscher zurück. Erst 86 Jahre später fand man ihre sterblichen Überreste. Über den Fundort haben nun ein Mathematiker und ein Glaziologe das Unglück rekonstruiert.

Vergrösserte Ansicht: Aletschgletscher
Der Konkordiaplatz war das Ziel der drei verschollenen Wanderer (Bild: David Haberthür, Flickr).

An einem Märztag 1926 trafen mittags vier Männer, drei von ihnen Brüder, auf der Hollandiahütte oberhalb des Grossen Aletschgletscher ein. Laut Augenzeugen brachen sie am Nachmittag zu einer Tour zum Konkordiaplatz auf. Dorthin, wo sich drei mächtige Firnströme zum Grossen Aletschgletscher vereinigen. Es war das letzte Mal, dass man sie lebend gesehen hatte.

86 Jahre im Eis verschollen

Die sterblichen Überreste der drei Brüder fanden 86 Jahre später zwei englische Alpinisten. Über den Fundort der Knochen haben der Mathematiker Guillaume Jouvet von der Arbeitsgruppe Kornhuber der Freien Universität Berlin und der Glaziologe Martin Funk von der ETH Zürich anhand eines Computermodells den Ort zurückverfolgt, an dem die Männer zu Tode gekommen und vom Gletscher aufgenommen worden sein müssen. Die Rekonstruktion lässt vermuten, dass sie erfroren sind. Vom vierten Mann fehlt nach wie vor jede Spur.

Jouvet hat während seiner Doktorarbeit an der EPF Lausanne in Zusammenarbeit mit ETH-Professor Funk sowie weiteren Gletscherforschern 2010 ein Modell entwickelt, indem erstmals die zeitlich und räumlich variierenden Fliesseigenschaften des Gletschers dargestellt werden konnten. Diese umfassen die Geschwindigkeit des Gletschers, sein Wachstum und seinen Schwund. Mit diesem «State-of-the-art-Modell» rekonstruierten sie die Vergangenheit des Aletschgletschers und simulierten seine zukünftige Entwicklung in einem sich verändernden Klima. Nun nutzten die Forscher das Modell, um den Weg zurückzuverfolgen, den die sterblichen Überreste der Brüder im Gletscher genommen hatten. Es gelang den Wissenschaftlern, ein Gebiet von 1600 mal 300 Metern einzugrenzen, in dem die Alpinisten verschwunden sein müssen.

Orientierungslos erfroren

Das Gebiet liegt im Tal nördlich der Hollandiahütte. Die Wissenschaftler schliessen daraus, dass die Männer die Orientierung verloren hatten. Im Laufe des Nachmittags des 4. März 1926 war ein Schneesturm hereingebrochen, der über Tage angehalten hat. Die Vermutung liegt laut den Forschern nahe, dass die Männer erfroren sind. Dass die Vermissten trotz wochenlanger Suche nicht gefunden wurden, könnte daran liegen, dass der starke Schneefall die Opfer bedeckte. Laut Messungen soll der Schnee, der nach dem 4. März gefallen ist, bis zum nächsten Winter nicht getaut sein.

Unter 250 Metern Eis begraben

Mit dem Eis-Fliessmodell errechneten die Wissenschaftler, dass die Körper mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 122 Metern pro Jahr insgesamt rund 10,5 Kilometer im Eis transportiert worden sein müssen. Die rekonstruierte Bewegungslinie zeigt an, dass sie 1980 etwa 250 Meter tief im Gletscher vergraben waren. Der Druck auf die Körper entsprach mit etwa 20 Bar dem zwanzigfachen Luftdruck. Hinweise darauf geben die deformierten Knochen, schreiben die Forscher. Nach 1980 erreichten die Leichen den Konkordiaplatz. Die Bewegungskurve biegt danach nach rechts ab, und das Geschwindigkeitsdiagramm verdeutlicht, dass die Transportgeschwindigkeit auf bis zu 200 Meter pro Jahr anstieg.

Wären die Leichen zum Zeitpunkt gefunden worden, an dem der Gletscher sie wieder freigab, wären sie wie die Gletscherleiche des Ötzi mumifiziert gewesen. Die forensischen Untersuchungen an den Knochen konnten jedoch keinen genauen Hinweis darauf geben, wie lange die Leichen bis zu ihrem Fund bereits an der Oberfläche gelegen hatten. Neben anderen Unsicherheiten ist das eine mögliche Fehlerquelle, wenn es darum geht, den Ort, an dem die Alpinisten starben, zu rekonstruieren. Das sei ein Grund dafür, warum man nicht einen genauen Punkt, sondern ein Gebiet bestimmt hat, in dem die Leichen wohl in das Eis eingetaucht seien, betont Funk.

Weitere Unsicherheiten bei der Modellierung konnten die Forscher verkleinern, indem sie die zugrundeliegenden Parameter variierten. «Die unterschiedlichen Simulationen bestätigten uns zugleich die Korrektheit unseres 2011 publizierten Modells», sagt Jouvet. Nur die in ihrem Modell angewendeten Parameter hätten einen vernünftigen und realistischen Bewegungsverlauf nachzeichnen können.

Spurensicherung mit Simulationen

Zu dieser unkonventionellen Gletschersimulation kam es eher zufällig. Funk sah in dem Knochenfund die Möglichkeit, das 2010 vorgestellte Modell zu validieren. Für den Forscher war damals klar: Stimmt das Modell, muss auch das Gebiet rekonstruiert werden können, in dem die Toten im Gletscher verschwanden. Die Forscher stellen in Aussicht, dass sie bei der Lösung von weiteren Fällen helfen könnten. Zum Beispiel beim amerikanischen Militärflugzeug, das am 19. November 1946 auf dem Gauligletscher eine Bruchlandung machte und seither verschwunden ist. Das Modell könnte simulieren, wann das Militärflugzeug wieder vom Gletscher freigegeben wird.

Literatur

Jouvet G and Funk M: Modelling the trajectory of the corpses of mountaineers who disappeared in 1926 on Aletschgletscher, Journal of Glaciology, Vol 60, Issue 220, 2014 doi: externe Seite10.3189/2014JoG13J156

Jouvet G, Huss M, Blatter H and Funk M: Modelling the retreat of Grosser Aletschgletscher in a changing climate, Journal of Glaciology, externe Seite57(206), 2011.

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