Frischs geheimes Tagebuch

Heute erscheint ein Tagebuch von Max Frisch, das bislang unveröffentlicht war. Der Schriftsteller beschreibt darin sein erstes Jahr in Berlin.     

Als 2011 bekannt wurde, dass von Max Frisch noch ein Tagebuch existiert, das absichtlich bis 20 Jahre nach seinem Tod unter Verschluss gehalten werden musste, war die Aufregung gross. Heute erscheint auf dem Buchmarkt ein Teil dieses Tagebuchs unter dem Titel «Aus dem Berliner Journal». ETH-News sprach mit Margit Unser, Leiterin des Max Frisch-Archivs, die an der Herausgabe des «Berliner Journals» mitgearbeitet hat.

Vergrösserte Ansicht: Margit Unser
Margit Unser ist Leiterin des Max Frisch-Archivs an der ETH Zürich. (Bild: Peter Rüegg / ETH Zürich)

Frau Unser, die Resonanz auf das Erscheinen des Tagebuchs ist riesig. Können Sie sich erklären, warum?
Max Frisch ist einerseits immer noch ein gefragter Autor mit einer grossen Fan-Gemeinde, die sich für alles interessiert, was über ihn in Erfahrung zu bringen ist. Andererseits ist ja unterdessen bekannt, dass Max Frisch selber verfügt hat, dass das Journal unter Verschluss bleiben muss. Das hat natürlich zusätzlich die Neugierde angefacht. Vermutlich erhofften sich viele, aus dem Berliner Journal mehr intime Details, vor allem über die zerrüttete Ehe von Frisch, zu erfahren.

Und wird dieser Voyeurismus befriedigt?
Nein, wer nur an möglichen Skandalgeschichten interessiert ist, hat das falsche Buch in der Hand. Erstens haben wir aus Persönlichkeitsschutzgründen entschieden, vorerst nur die ersten zwei der insgesamt fünf Ringhefte zu veröffentlichen, und auch in dieser Fassung wurden Texte weggelassen. Zweitens handelt es sich beim Berliner Journal um literarisch verdichtete Texte, die von Anfang an für eine breitere Leserschaft bestimmt waren.

Wie stehen die Chancen, dass irgendwann auch noch der Rest des Tagebuchs publiziert wird?
Natürlich verstehe ich, dass sich die Max Frisch-Forschung wünscht, der Inhalt des gesamten Journals stünde schon jetzt editiert zur Verfügung. Aber aus rechtlichen Gründen können die Hefte drei bis fünf vorläufig nicht freigegeben werden.

Das Tagebuch kam quasi vom Safe zu Ihnen ins Archiv. Was hat Sie am meisten daran überrascht, als Sie es gelesen haben?
Die Texte über die DDR haben mich am meisten beeindruckt. Max Frisch, der 1973 nach Westberlin gezogen ist, um neue Erfahrungen zu machen, richtete dann überraschenderweise seinen Blick überwiegend auf den Ostteil der Stadt. Er trifft sich häufig mit DDR-Schriftstellern wie Christa Wolf, Jurek Becker, Günter Kunert und Wolf Biermann. Mit einem sehr wachsamen Blick beschreibt er gänzlich unvoreingenommen die Situation der Intellektuellen unter dem ideologischen DDR-Diktat.

Was erfährt der Leser über den Menschen Max Frisch?
Frisch setzt sich wie stets sehr kritisch mit sich selber auseinander. Da ist der grosse Altersunterschied zu seiner Frau – sie ist 28 Jahre jünger –, was zusehends ein Problem wird. Er ist Alkoholiker, kommt sich alt und unattraktiv vor. Das beschäftigt ihn sehr. Hinzu kommen auch seine Zweifel am eigenen Geschriebenen und an seiner Sprache.

Vergrösserte Ansicht: Max Frisch in Berlin
Max Frisch mit Marianne Frisch und Uwe Johnson in Berlin. (Bild: Judith Macheiner / Max Frisch-Archiv, Zürich)

Was macht das Berliner Journal besonders?
Es enthält herausragende Porträts von Schriftstellerkollegen und -kolleginnen, zum Beispiel von Hans Magnus Enzensberger, Christa Wolf oder Günter Grass, den Frisch in seiner Sucht nach Publizität hautnah erlebt. Aussergewöhnlich sind seine fiktionalen Texte – zum Beispiel einer meiner Lieblingstexte – in dem er Zürich als geteilte Stadt beschreibt. Anders als im geteilten Berlin liegt bei Frisch der reiche Zürichberg im Osten von Zürich, der in sich gefangen und unfrei ist. Die Stimmung, die in Berlin geherrscht haben muss, ist in dieser Vision vom geteilten Zürich fast mit Händen zu greifen – grossartig!

Wie bedeutend ist die Berliner Zeit für Max Frisch?
Da gibt es einen seltsamen Widerspruch: Er selbst beschreibt im Journal die Zeit als unproduktiv. Was er anpacke, gelinge ihm nicht, ihm falle nichts mehr ein. Aber gerade in dieser Zeit zwischen 1973 und 1979 erscheinen bedeutende Alterswerke, wie das «Dienstbüchlein», «Montauk» oder «Der Mensch erscheint im Holozän».

Warum geht Max Frisch eigentlich nach Berlin?
Max Frisch ging nicht ohne Grund gerade nach Berlin. Er war schon als Student zweimal dort, während der Kriegsjahre war ihm das Reisen nicht möglich. Als Frisch 1947 und 1948 wieder in Berlin war, hat er in seinen Notizenheften festgehalten, dass er in dieser Stadt zu einem neuen Menschen geworden sei, einer, der weder an die Vergangenheit noch an die Zukunft denke; dass ihn in dieser Stadt nichts belaste. Die Sehnsucht nach diesem Gefühl hat ihn wohl 1973 wieder nach Berlin geführt. In der Ausstellung «Rund um das Berliner Journal» zeige ich im Max Frisch-Archiv viele Archivalien, die diese besondere, lebenslange Beziehung des Schriftstellers zu Berlin dokumentieren. Zudem werden erstmalig in der Schweiz einige Originalseiten aus dem «Berliner Journal» zu sehen sein.

Buch und Ausstellung

Max Frisch: Aus dem Berliner Journal. Herausgegeben von Thomas Strässle unter Mitarbeit von Margit Unser. 260 Seiten. Gebunden, Fr. 30.50, ISBN 978-3-518-42352-3

Die Ausstellung mit dem Titel «Rund um das Berliner Journal» ist vom 3. Februar - 29. August 2014 jeweils Montag - Freitag, 10:00 - 17:00 Uhr im Max Frisch-Archiv an der ETH-Bibliothek geöffnet.

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