Wie KI bei der Medikamentenentwicklung hilft

Künstliche Intelligenz könnte auch die pharmazeutische Forschung ein gutes Stück weiterbringen, sagt Gisbert Schneider. Mittelfristig könnten Computer sogar autonom Experimente durchführen.

Gisbert Schneider

Medikamente zu entwickeln ist eine komplexe und ehrgeizige Aufgabe: Es werden Wirkstoffe gesucht, welche die dringendsten Gesundheitsprobleme der Welt lösen, bei den Patienten jedoch keine oder nur geringe Nebenwirkungen auslösen.

Chemiker müssen dabei umfangreiche Wechselwirkungen berücksichtigen: Medikamente wechselwirken mit verschiedenen Zellen und Organen im menschlichen Körper auf unterschiedliche Weise, und auch von Patient zu Patient können sich die Wechselwirkungen stark unterscheiden. Viele Wirkstoffe werden heute mithilfe von schrittweise wiederholenden (iterativen) Tests im Labor entdeckt. Allerdings stossen wir dabei an die Grenzen unserer Fähigkeit, neue Wirkstoffmoleküle zielgerichtet zu entwerfen und auszuwählen. Theoretische Schätzungen gehen von ungefähr 1060 wirkstoffartige Molekülen aus, unter denen es die Besten zu identifizieren gilt. Um erfolgreich Medikamente entwickeln zu können, braucht es hochspezialisiertes Expertenwissen, dass sich Chemiker in vielen Jahren Berufserfahrung aneignen müssen.

Ideale Wirkstoffe zu entwickeln ist eine komplexe Aufgabe. (Grafik: ETH Zürich / Jack Burgess)
Ideale Wirkstoffe zu entwickeln ist eine komplexe Aufgabe. (Grafik: ETH Zürich / Jack Burgess)

Künstliche Intelligenz (KI) und maschinelles Lernen könnten daher Chemikern helfen, diese hochkomplexe Aufgabe besser zu lösen: KI kann sehr viel effizienter grosse Datenmengen analysieren als der Mensch, KI erzeugt reproduzierbare Ergebnisse, und sie beschleunigt potenziell den Entdeckungsprozess, denn sie ist in der Lage, viele Forschungsziele gleichzeitig zu berücksichtigen.

Ein perfekter Partner?

Bessere Wirkstoffe, schneller entdeckt und entwickelt – KI ist auf den ersten Blick ein idealer Partner für Chemiker. In einigen Bereichen könnten chemiekundige KI-Systeme dereinst menschliche Chemiker tatsächlich übertreffen. Das dürfte vor allem in jenen Bereichen der Fall sein, in welchen der menschliche Geist an seine Grenzen kommt.

Im Wissen um die Vorteile der KI müssen wir die Erwartungen an sie dennoch auf einem realistischen Mass halten. KI ist in der Chemie kein Wundermittel.  Wir müssen uns eingestehen, dass wir viele Krankheitsprozesse noch nicht vollständig verstehen. Eine Maschinenintelligenz wird nur dann ursächliche Zusammenhänge zwischen chemischen Strukturen und ihren Effekten lernen können, wenn wir sie mit den entsprechenden Daten füttern.

«KI könnte die Wirkung chemischer Substanzen schon in einem früheren Entwicklungsstadium besser voraussagen.»Gisbert Schneider

Chemiker brauchen sich im Übrigen nicht zu fürchten, dass sie dereinst von Computern ersetzt werden. Wenn wir bei der Wirkstoffentwicklung weiterhin Fortschritte machen möchten, werden wir in Zukunft tatsächlich nicht weniger, sondern mehr Medizinalchemiker brauchen. Der Einzug von KI in die Chemie wird jedoch die Arbeitsweise und das Aufgabenspektrum von Chemikern weiter verändern, so wie sich die Laborumgebung bereits in den letzten Jahren verändert hat durch den Einzug von Software und Laborrobotik, dank der wir heute chemische Eigenschaften mit hoher Genauigkeit viel schneller vorhersagen können als in einem nicht-automatisierten klassischen Labor.

Automatisierung des Erkenntnisgewinns

Diese Automatisierung könnte noch weitergehen. In drei bis fünf Jahren könnte es soweit sein, dass Computer mithilfe von Robotik autonom und produktiv Experimente durchführen. An einigen Orten, insbesondere bei uns an der ETH Zürich sowie in der Industrie, wird dies bereits getestet.

Von der KI können wir erwarten, dass sie die Wirkung chemischer Substanzen schon in einem früheren Entwicklungsstadium besser voraussagen und neue Substanzen mit gewünschten Eigenschaften vorschlagen kann. Wir können daher spekulieren, dass weniger Substanzen getestet werden müssen, die sich bei den Tests als unwirksam herausstellen werden.

Auf lange Sicht kann die KI die Tür öffnen zu einer wirksameren und zugänglicheren personalisierten Medizin. Es braucht dazu nicht nur Investitionen in diesen Bereich, sondern auch ein neues interdisziplinäres Denken von Experten aus den Bereichen KI, Chemie, Pharma und Biotech.

Rethink

Mit der Anwendung künstlicher Intelligenz auf Designprozesse befasst sich auch Rethink, ein neuer interdisziplinärer Think-Tank der ETH Zürich. Designfragen stellen sich in vielen Bereichen der modernen Wissenschaft, von Robotik und Biologie bis zum Chemieingenieurwesen und Gesundheitswesen. Rethink vereint Experten aus Wissenschaft und Industrie, die sich mit den Auswirkungen von KI auf die Wissenschaft und ihre Prozesse befassen sowie mit der Frage, wie KI zum Nutzen von Wissenschaft und Gesellschaft beitragen kann.

Weitere Informationen auf rethink.ethz.ch

Referenzen

Schneider G: Mind and machine in drug design, Nature Machine Intelligence 2019, 1: 128-130. doi: externe Seite10.1038/s42256-019-0030-7

Schneider G: Automating drug discovery, Nature Reviews Drug Discovery 2018, 17: 97-113. doi: externe Seite10.1038/nrd.2017.232

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