«Wir erleben einen fundamentalen Wandel»

Lothar Thiele ist der neue Delegierte der Schulleitung für Digitale Transformation. Im Gespräch erklärt er, warum die ETH Zürich einen solchen Delegierten braucht und warum die grosse Aufmerksamkeit zum Thema Digitalisierung berechtigt ist.

«Wir sollten nicht nur über Chancen, sondern auch über Risiken sprechen»: Lothar Thiele, Delegierter für Digitale Transformation. (Bild: ETH Zürich / Giulia Marthaler)
«Wir sollten nicht nur über Chancen, sondern auch über Risiken sprechen»: Lothar Thiele, Delegierter für Digitale Transformation. (Bild: ETH Zürich / Giulia Marthaler)

Herr Thiele, Sie wurden von der Schulleitung kürzlich zum Delegierten für Digitale Transformation ernannt. Was ist ihre Aufgabe?
Thiele: Die Digitalisierung ist nicht nur für die Medien ein grosses Thema, sondern auch für die Wirtschaft und die Politik. Dies hat Rückwirkungen auf die ETH: Wir sehen uns mit vielen Anforderungen und Wünschen konfrontiert. Als führende Institution will die ETH die Diskussion aktiv mitgestalten. Dazu braucht sie eine Strategie, wie sie mit dem Thema umgehen will, und sie muss Prioritäten setzen. Meine Aufgabe ist es, die Schulleitung, die Professuren und Departemente dabei zu unterstützen.

Ist das Stichwort «Digitalisierung» nicht einfach ein modisches Label?
Im Grunde genommen ist die Digitalisierung kein neues Phänomen, das stimmt. Der «Spiegel» stellte beispielsweise bereits 1978 in einer Titelgeschichte die Frage, ob die Automatisierung, die ja stark mit der Digitalisierung zusammenhängt, Arbeitskräfte vernichten wird. Die Argumente von damals werden noch heute vorgebracht, also Ersatz von Arbeitsplätzen durch Maschinen gegenüber Befreiung von Routineaufgaben. Später drehte sich die Diskussion um die Informationsgesellschaft. Im Vordergrund stand die Frage, wie wir im Internet Informationen beschaffen und miteinander kommunizieren. Das Thema beschäftigt uns also schon eine ganze Weile.

Warum ist es denn nun so virulent?
Wir sind in eine neue Phase der Digitalisierung eingetreten. Man kann heute Daten in einem bisher unbekannten Ausmass erfassen, speichern, verarbeiten und übermitteln. Gleichzeitig versteht man immer besser, wie man aus Daten Informationen und Wissen und schliesslich auch Verständnis gewinnen kann.

Was bedeutet das für die Gesellschaft?
Die Digitalisierung verändert viele alltagsrelevante Prozesse fundamental, und zwar quer durch alle Lebensbereiche. Immer mehr Aufgaben werden von selbständig arbeitenden Computern übernommen. Das wirkt sich natürlich auch auf den Arbeitsmarkt aus.

In der öffentlichen Debatte ist sowohl von Chancen als auch von Risiken die Rede. Welche Seite prägt die Debatte stärker?
Beide Seiten werden in den Medien recht ausgewogen dargestellt. Meiner Ansicht nach ist die Digitalisierung für die Schweiz aber primär eine Chance, die sie wahrnehmen muss.

Warum?
Die Schweiz ist keine Insel, sie ist global stark vernetzt. Viele Länder investieren gewaltig in die Digitalisierung, und wir können uns dieser Entwicklung ganz einfach nicht entziehen, vor allem wenn wir unsere sozialen Errungenschaften beibehalten wollen. Dennoch ist es richtig, dass man sich auch mit den Risiken auseinandersetzt. Wenn sie nicht hinreichend diskutiert werden, entstehen daraus brisante soziale Probleme. Die ETH nimmt die möglichen Folgen der Digitalisierung sehr ernst, denken Sie nur an die Professuren, die sich mit den politischen, ethischen, juristischen und soziologischen Folgen auseinanderzusetzen.

«Die ETH sollte nicht irgendwelchen Trends hinterherrennen, sondern Leuchtturmprojekte zu relevanten Themen initiieren.» Lothar Thiele

Welches sind die Voraussetzungen, damit die Schweiz die Chancen der Digitalisierung nutzen kann?
Bildung ist sicher ein zentraler Aspekt. Wir müssen die Ausbildung rund um die Informatik in den Schulen verbessern, nicht nur in den Gymnasien, sondern auch bereits in der Primarschule. Wir müssen Kinder und Jugendliche befähigen, nicht nur irgendwelche Geräte oder Software zu bedienen, sondern etwas Neues mit Nutzen für die Gesellschaft zu schaffen. Nur so können wir verhindern, dass wir zu einer «digitalen Kolonie» werden. Auch die Weiterbildung der Arbeitnehmerinnen und -nehmer gewinnt an Bedeutung. Wenn die Digitalisierung den Arbeitsmarkt verändert, wird es auch neue Berufe und Wachstumsfelder geben. Doch ohne kontinuierliche Weiterbildung können wir die Chancen, die sich daraus ergeben, gar nicht nutzen.

Die ETH will sich als führendes Kompetenzzentrum im Bereich Digitalisierung positionieren. Wo steht sie heute?
Die ETH hat in der Wirtschaft und in der Politik einen hervorragenden Ruf. Diesen verdankt sie der Tatsache, dass sie schon lange in diejenigen Bereiche investiert, die heute relevant sind. Langfristig angelegte Grundlagenforschung war und ist der Schlüssel für diesen Erfolg. Sie hat nicht nur die Informatik und Elektrotechnik ausgebaut, sondern auch die Robotik gestärkt, das Departement Gesundheitswissenschaften neu gegründet und neue Professuren in den Geistes- und Sozialwissenschaften eingerichtet. Das sind alles Gründe, warum grosse Firmen wie Google, Disney oder Oracle heute in Zürich Forschung betreiben.

Wie sollte sich die ETH in der Öffentlichkeit positionieren?
Die ETH sollte auf keinen Fall versuchen, maximal viel Wind zu machen, um mediale Aufmerksamkeit zu erzielen. Wir sollten nicht irgendwelchen Trends hinterherrennen, sondern Leuchtturmprojekte mit wissenschaftlicher Relevanz initiieren.

Welche Themen finden Sie selbst interessant?
Es gibt verschiedene Aspekte, die ich persönlich sehr spannend finde. Einer betrifft die Privatsphäre: Die Frage ist nicht nur, wer Zugriff auf meine Daten hat, sondern auch, was mit den Daten passiert, die ich weitergebe. Wohin gehen sie? Wer darf sie benutzen? Welche Informationen lassen sich daraus gewinnen? Welche Mechanismen gibt es, um das allenfalls zu beschränken? Technisch gesehen geht es um den Bereich Informationstheorie, aber es stellen sich vor allem auch rechtliche und ethische Fragen.

Ein weiterer Aspekt der Digitalisierung betrifft das maschinelle Lernen: Lernfähige Algorithmen führen nicht einfach vorgegebene Befehle aus, wie zum Beispiel, eine Zahlenreihe zu sortieren. Sie lernen aufgrund von Erfolg und Fehlern. Das ist ein gewaltiger Unterschied. In vielen Bereichen sind lernfähige Maschinen bereits heute dem Menschen überlegen. Das Problem: Man weiss noch nicht genau, wie sie lernen. Wir haben also etwas geschaffen, das wir zumindest bis jetzt noch nicht genügend verstehen. Wir wissen auch nicht, wie Menschen lernen und worin sich menschliches und maschinelles Lernen prinzipiell unterscheiden.

Zur Person

Lothar Thiele ist Professor für Technische Informatik am Departement Elektrotechnik der ETH Zürich. In seiner Forschung befasst er sich mit cyberphysischen Systemen, dem Internet-of-Things, eingebetteten Systemen und evolutionären Algorithmen. Anfang November wurde er von der Schulleitung zum neuen Delegierten für Digitale Transformation ernannt.

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