Erfolgsfaktor Natürlichkeit

«Natürlichkeit» ist ein Konstrukt. Trotzdem hängt im Lebensmittelmarkt der Erfolg massgeblich davon ab, ob die Konsumenten die Produkte als natürlich wahrnehmen. Das zeigt eine neue Studie der ETH-Professur für Consumer Behavior.

Rüben und Erde
Je naturnäher, desto besser: Konsumentinnen und Konsumenten in entwickelten Ländern bevorzugen sehr oft Lebensmittel, die ihrer Vorstellung von Natürlichkeit entsprechen. (Bild: Colourbox)

Dass Künstlichkeit und Virtualität zunehmend alltäglich werden - etwa in der Medizin, beim Medienkonsum oder in der Industrie - ist breit akzeptiert. Denn alle profitieren von den Vorteilen des technischen Fortschritts. Doch wenn es ums Essen geht, weist der Trend in die entgegengesetzte Richtung: Konsumentinnen und Konsumenten reagieren beim Thema Lebensmittel zunehmend sensibel. So führt in der Schweiz die Befürchtung, Lebensmittel würden Stoffe enthalten, die nicht hineingehören oder falsch deklariert werden, bei der Stiftung für Konsumentenschutz zu immer mehr Beanstandungen. Wie unverfälscht die Nahrungsmittel sind, die wir auf dem Teller haben, scheint für das Qualitätsempfinden und die Akzeptanz eine wichtige Rolle zu spielen.

Zu diesem Schluss kommt auch eine breit abgestützte Studie der ETH-Professur für Consumer Behavior von Michael Siegrist. Er hat die Erkenntnisse kürzlich zusammen mit spanischen Forscherkollegen im Journal «Trends in Food Science & Technology» publiziert.

Unscharfer, aber relevanter Begriff

«Der Stellenwert von Natürlichkeit bei Nahrungsmitteln ist von hoher praktischer Relevanz. Trotzdem wurde er bisher nicht fundiert untersucht», so Michael Siegrist. Einerseits sei von Interesse, wie natürlich die Produkte selbst empfunden werden. Andererseits, woran der Begriff «natürlich» überhaupt festgemacht wird. Letzteres sei allerdings schwer zu erfassen und nicht Gegenstand dieser Studie gewesen. Auch wären zu diesem Aspekt nur wenige und kaum aussagekräftige Publikationen zur Verfügung gestanden.

Von zunächst rund 1’000 möglichen wissenschaftlichen Beiträgen filterten die Forscher am Ende 72 heraus, auf welche die Forschungsfragen zutrafen und die sich untereinander vergleichen liessen. Gemessen wurde die Bedeutung der Natürlichkeit in drei Hauptkategorien. Erstens: Wie wurde ein Produkt angebaut? (Etwa: biologisch oder in der Region). Zweitens: Wie wurde es verarbeitet? Beispiele: An- bzw. Abwesenheit von Zusatz, Farb- und Geschmacksstoffen oder Hormonen. Dabei wurde auch der Verarbeitungsgrad einbezogen: Je weniger verarbeitet ein Produkt ist, desto besser aus Sicht der Konsumenten.

Und schliesslich die dritte Kategorie: Wie natürlich erscheint den Endkonsumenten das finale Produkt? Stichworte hier sind Gesundheit und Geschmack, Frische oder ökologische Orientierung. - So verbindlich «Natürlichkeit» als Begriff erscheint: Die Studie offenbart, dass er hochgradig abstrakt ist und unterschiedlichste Assoziationen hervorruft.

Naturnähe durchgehend stark gewichtet

Welches ist der überraschendste Befund? «Alle Studien kommen zum Schluss, dass bei einer Mehrheit der Konsumenten der Zuspruch für Lebensmittel stark davon abhängt, wie natürlich sie wahrgenommen werden. Und das bei über 85'000 Teilnehmenden aus 32 Ländern, verteilt auf einen Zeitraum von rund 20 Jahren», erklärt Siegrist.

Alle Studien wurden allerdings in verhältnismässig reichen Industrieländern in Europa und Asien, Amerika und Ozeanien durchgeführt. In Schwellen- und Entwicklungsländern könnten stark verarbeitete Produkte, weil teuer und mit entsprechendem Sozialprestige behaftet, positiver wahrgenommen werden. Die gleiche Erhebung würde dort wohl ein umgekehrtes Bild ergeben: einen tieferen Stellenwert von «natürlichen» Lebensmitteln und einen entsprechend höheren bei industriell hergestellten Produkten, vermutet der ETH-Professor.

Industrie ist gefordert

Die Studie zeigt zudem auf, dass sich ältere Menschen und Frauen stärker für Natürlichkeit interessieren als jüngere Leute und Männer. Für Konsumentinnen und Konsumenten, die biologisch hergestellte Produkte bevorzugen, ist der Stellenwert von Natürlichkeit bei Lebensmitteln besonders hoch.

Generell scheint das auch bei Menschen der Fall zu sein, die beim Einkauf auf traditionelle, nachhaltige, gesunde und biologische Produkte achten. Aufgrund dieser Resultate überrascht es auch kaum, dass Natürlichkeits-Orientierung mit negativer Wahrnehmung technologischer Innovationen in der Lebensmittelindustrie einhergeht.

An diesem Punkt setzen die Forscher denn auch mit ihrem wichtigsten Fazit an: Unternehmen, die an innovativen Lebensmitteltechnologien arbeiten – Stichworte: In-vitro-Fleisch oder Lebensmittel aus dem 3D-Drucker – müssten den Faktor Natürlichkeit unbedingt im Auge behalten. «Auch wenn die menschliche Wahrnehmung gewissen Verzerrungen unterworfen ist: Das hohe Gewicht von Authentizität bei der Akzeptanz von Lebensmitteln ist ein Faktum. Das heisst: Produkte, welche die Konsumenten als künstlich wahrnehmen, dürften sie auch künftig kaum annehmen», folgert Siegrist.

Um Erfolg zu haben, müssten Nahrungsmittelhersteller demnach den teilweise widersprüchlichen Bedürfnissen der Konsumentinnen und Konsumenten nachkommen. Sie müssten beispielsweise Lebensmittelsicherheit und Naturnähe überzeugend verbinden, und zwar bereits auf einer frühen Stufe der Produktentwicklung.

Literaturhinweis

Roman S, Sanchez-Siles L, Siegrist M. The importance of food naturalness for consumers: Results of a systematic review. Trends in Food Science & Technology, Volume 67, September 2017, Pages 44–57. DOI: externe Seite10.1016/j.tifs.2017.06.010

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