Prüfen von Prüfungen

Wie geprüft wird, hat einen wesentlichen Einfluss darauf, wie gelernt wird. Damit die ETH auch künftig eine führende Stellung in der Ausbildung junger Talente einnimmt, haben sich rund hundert Personen, die an der ETH Zürich die Lehre prägen, in einer zweitägigen Klausur den Prüfungen gewidmet.

Vorlesungsraum ETH Zürich
(Bild: ETH Zürich / Simon Tanner)

«Von Lernnachweisen zu Bildungsausweisen» lautete der Titel des zweiten Lehrretreats, zu dem ETH-Rektorin Sarah M. Springman Mitte Januar eingeladen hatte. Zur zweitägigen Klausur auf dem Bockengut in Horgen fanden sich rund hundert Personen ein. Prorektoren, Studiendirektoreninnen und -koordinatoren, Lehrspezialistinnen, Verantwortliche aus dem Rektorat und Vertreter der Studierenden und aus dem Mittelbau tauschten ihre Gedanken rund ums Thema «Assessment in der Lehre» aus. Eine Referentin und drei Referenten regten mit ihren Einschätzungen und Ideen, wohin sich die Lehre in den kommenden 15 Jahren entwickeln könnte oder sollte, die Diskussion an.

Lehre gegen Forschung

Antonio Loprieno, Alt-Rektor der Universität Basel und lange Jahre Präsident der Rektorenkonferenz der Schweizer Universitäten CRUS, erinnerte kurz daran, wie sich über die Jahrzehnte zwei Universitätstypen herausgebildet haben. Um dann festzuhalten, dass das auf dem europäischen Kontinent verankerte Post-Humboldtsche Modell gegenüber dem auf John Henry Newman zurückgehende angelsächsischen Weltklasse-Universitätsmodell an Boden verliert. Als wichtigen Treiber dafür sieht er die auf Forschung basierenden Hochschulrankings, die den Wettbewerb unter den Universitäten befeuern. Damit einher geht laut Loprieno eine weitere Herausforderung: der generelle Bedeutungsverlust der Lehre gegenüber der Forschung. Eine aktuelle Gefahr sieht er in der politischen Entwicklung der westlichen Welt. Zu einer Zeit, in der unsere Gesellschaft das höchste Niveau an wissenschaftlicher Kompetenz erreiche, habe sie sich ins postfaktische Zeitalter begeben. Hier seien gerade Institutionen wie die ETH gefordert.

Fragestellungen aus dem realen Leben

Ebenfalls von «Ranking» und «Classifying» sprach Eric Mazur, Physikprofessor an der Harvard University und Gewinner des «Minerva Prize for Advancements in Higher Education 2014». In Prüfungen gehe es häufig immer noch um Einstufungen anstatt darum, Fähigkeiten zu fördern, die im 21. Jahrhundert gefragt sind. Auf Blooms Taxonomie von Lernzielen (vgl. Abbildung) bewegten sich die  meisten Prüfungsfragen auf den untersten drei Stufen, das heisst sie zielten auf das Erinnern, Verstehen oder Anwenden ab und hätten wenig mit dem späteren Berufsleben zu tun.

Vergrösserte Ansicht: Die sechs Lernstufen nach Blooms Taxonomie.
Die sechs Lernstufen nach Blooms Taxonomie. (Grafik: ETH Zürich)

Mazurs Plädoyer: In Prüfungen sollen – auch in Gruppen – Fragestellungen aus dem realen Leben gelöst werden, mit den entsprechenden Hilfsmitteln wie Büchern und Computern. Statt einer Rangliste soll die Rückmeldung an die Studierenden im Zentrum stehen, denn mit Prüfungen liessen sich keine aussagekräftigen objektiven Ranglisten erzielen. Nicht Inhalte, sondern Fähigkeiten sollen also geprüft werden. Für die Gestaltung eines Lehrgangs bedeutet dies, dass von den Lernzielen – und mithin den Prüfungsaufgaben – ausgegangen wird («Backward design»). Schliesslich gelte es auch, die konfliktträchtige Doppelrolle von Dozierenden als Coaches und Beurteilenden zu vermeiden, etwa indem die Studierenden ihre Leistungen gegenseitig bewerten.

Auf das Arbeitsleben vorbereiten

ETH-Abgängerinnen und -Abgänger, die aufs Arbeitsleben gut vorbereitet sind: Darauf zählt Gabriela Keller, CEO der Firma Ergon Informatik, seit Jahren; beinahe die Hälfte aller Mitarbeitenden (130 von 270) haben an der ETH Informatik studiert. Keller beschreibt die Universitätsbildung als T-Form, wobei das Dach des Buchstabens die Grundkenntnisse aus dem Bachelorstudium beinhaltet, während die Säule im «T» eine erste Vertiefung von Kenntnissen im Masterstudium symbolisiert. Im Laufe des Arbeitslebens kämen dann weitere Vertiefungen hinzu, so dass aus der «T-Form» langsam ein Tintenfisch mit vielen Beinen wachse.

Von der ETH erwartet Keller, dass sie den Fokus weiterhin auf die Ausbildung legt und nicht mit Blick auf die Rankings allein die Forschung fördert. Lobend erwähnte sie die «Critical Thinking»-Initiative der ETH, seien doch das kritische Reflektieren des eigenen Gebiets und das Eingehen auf Kundenwünsche wesentliche Fähigkeiten im Arbeitsleben. Dass Praktika im Informatikstudium nicht mehr Teil des Curriculums sind, bedauert sie. Positiv sei, dass viele Studierenden trotzdem freiwillig ein Praktikum machten.

Mehr Verantwortung übernehmen

Eine Ausbildung, die fit macht für den Arbeitsmarkt, das erwarten die ETH-Studierenden laut VSETH-Vertreter Neil Montague de Taisne. Seine Diskussionsvorschläge zielten mehrheitlich auf eine Individualisierung des Studiums ab: Statt den Fokus auf Noten zu legen, die eher nach aussen wirken, den Studierenden vermehrt verbales Feedback geben, um sie zu motivieren; die Einführung von Quartalen anstelle von Semestern erwägen; die Studierenden dabei unterstützen, mehr Verantwortung zu übernehmen, beispielsweise mittels Affinitätstest, der sie bei der Wahl der Studienrichtung unterstützt oder mittels technischer Hilfsmittel, die ihnen die auf sie zugeschnittenen Kurse aufzeigen.

Die Weichen für morgen gestellt

Nach diesen Inputreferaten waren die Teilnehmenden dran: In gemischten Gruppen diskutierten sie die Ideen und Einschätzungen der Referierenden, stellten sie den eigenen Vorstellungen gegenüber und präsentierten ihre Erkenntnisse im Plenum. Ein Workshop mit Eric Mazur, in dem konkrete Prüfungsaufgaben mit Blick auf Blooms Taxonomie beurteilt werden mussten, rundete den ersten Tag ab. Vier Kurzreferate zu Erfahrungen mit innovativen Prüfungsformen aus den Reihen der ETH leiteten den zweiten Tag ein. Danach widmeten sich die Teilnehmenden – wiederum in kleinen gemischten Gruppen – ganz verschiedenen Teilaspekten des Assessments. Sie erarbeiteten konkrete Vorstellungen zur Rolle der Digitalisierung oder den Einbezug von überfachlichen Kompetenzen, aber auch der Arbeitszyklus der Studierenden im akademischen Jahr oder der Einsatz zentraler Elemente waren Diskussionsthemen.

Dutzende von Flipcharts voller Post-its und Skizzen sind das sichtbare Resultat der zwei Tage. Die Wirkung wird der Retreat aber erst in den kommenden Monaten und Jahre entfalten, wenn sich bei den Teilnehmenden die Eindrücke und Ideen verdichten und in den Departementen und im Rektorat Massnahmen abgeleitet werden, die zu besseren Lehr- und Lernprozessen führen.

Referate und erste Resultate

Wer nicht am Retreat teilnehmen konnte und mehr über die Inhalte erfahren möchte, kann die Referate und Präsentationen der Resultate aus den ersten Workshops hier aufrufen.

Impressionen vom Workshop (Bilder: Pia Aeschlimann)

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