Chronik eines katastrophalen Hangrutsches

Dramatische Entwicklung am Aletschgletscher dokumentiert: Weil sich das Eis so rasch zurückgezogen hat, ist ein angrenzender Hang rasant in Bewegung gekommen. Forscher zeigen nun anhand eines einzigartigen Datensatzes auf, dass der Eisverlust des Aletschgletschers und das Abrutschen der Moosfluh direkt zusammenhängen.

Moosfluh Messgerät
Mit bodengestützten Radar- und Lasermessungen vermassen die Geologen hochauflösend die Veränderungen der Moosfluh oberhalb des Aletschgletschers. (Bild: Andrew Kos / ETH Zürich / Terrasense)

Dass die Moosfluh-Bahn trotz beweglichem Fundament ihrer Bergstation im letzten Herbst den Betrieb vorübergehend einstellen musste, sagt viel über die dramatischen Ereignisse, die sich im Aletschgebiet abspielen. Seit Jahren ist die Moosfluh, der Hang, der an den Aletschgletscher grenzt, in Bewegung. In zuvor nie gekanntem Tempo gleitet die gesamte Böschung von rund einem Quadratkilometer Ausdehnung talwärts. Geowissenschaftler können nun belegen, dass die Instabilität dieses Hangs direkt mit dem Rückgang des Gletschereises und damit dem Klimawandel zusammenhängt. Dabei stützen sich die Forscher auf einen einzigartigen Datensatz. Um Messdaten zu erheben, setzten die Forscher verschiedene Messinstrumente und -systeme ein. Sie verwendeten Laserscanner aus der Luft und vom Boden aus, Radar- und GPS-Messungen. Auch werteten sie Satelliten- und alte Messdaten (der Gletscherhöhe und –länge) sowie Landeskarten aus.

«Aufgrund unserer langjährigen Messungen konnten wir eine kritische Schwelle des Gletscherschwundes, bei welcher sich die Situation sprunghaft verschärfte, aufspüren», sagt Andrew Kos. Der ehemalige ETH-Ingenieurgeologe ist Erstautor einer Studie, welche die Resultate einer langjährigen und einzigartigen Messkampagne im Rutschgebiet vorstellt. Sie ist soeben im renommierten Fachjournal «Geophysical Research Letters» erschienen.

Diese Schwelle trat Mitte der 1990er-Jahre auf. Ab diesem Zeitpunkt schwand das Gletschereis viel schneller als je zuvor. Damit beschleunigte sich auch die Hangbewegung – allerdings mit einer gewissen Zeitverzögerung von neun Jahren. So konnten die Forscher anhand von früheren Messdaten rekonstruieren, dass der Gletscher bis Anfang der 1990er-Jahre zwar konstant, aber mässig stark schrumpfte. Auch die Moosfluh bewegte sich bis dahin durchschnittlich mit weniger als einem Zentimeter pro Jahr, wie die Auswertung alter photogrammetrischer Aufnahmen zeigte. Nach 1995 aber kam die Sache ins Rutschen: Der Aletschgletscher im Vorfeld der Moosfluh verlor massiv an Dicke, und die Moosfluh beschleunigte deutlich und sackte in jüngster Zeit im Durchschnitt 30 Zentimeter pro Jahr ab.

Die Bewegung pflanzt sich fort

Dass sich die Situation dramatisch beschleunigte, erkannten die Forscher auch daran, dass Felsabbrüche am Hangfuss häufiger und voluminöser wurden. Bis zum Jahr 2005 registrierten die Geologen einen einzigen Abbruch von rund 5000 Kubikmeter Felsmaterial, bis 2011 zwei Abbrüche von ähnlichem Umfang. Von 2011 bis 2012 jedoch donnerten sieben Felsstürze zu Tal, von 2012 bis 2015 nur zwei, dafür umso wuchtigere, die 10 beziehungsweise 30 Mal mehr Felsmaterial mitrissen als die Ereignisse von 2011 bis 2012. Und 2016 schliesslich brachen in einem einzigen Ereignis 2,5 Millionen Kubikmeter Fels ab. «Besonders kritisch für die Stabilität des gesamten Hanges ist der Hangfuss», sagt Kos.

Aletschgletscher
Am Hangfuss der Moosfluh haben sich in den vergangenen Jahren immer häufiger und immer grössere Felsabbrüche ereignet. (Bild: Andrew Kos / ETH Zürich / Terrasense)

Gibt das Eis den Hangfuss frei, fehlt ihm das Widerlager. Er beginnt abzukippen und abzugleiten. Diese Bewegung pflanzt sich durch den gesamten Hang bis zu seiner oberen Begrenzung, einem flachen Berggrat, fort. Dieser sackt in der Folge ein. Dies wiederum erzeugt Spannungen, sodass der Boden auch dort tief aufreisst.

Schneller als die Wissenschaft erlaubt

Dass Hänge durch den Gletscherrückgang in Bewegung geraten, ist für die Geologen an sich nichts Neues. Sie gingen allerdings bislang davon aus, dass dies ein langsamer, kaum wahrzunehmender Prozess ist. Von der Geschwindigkeit, wie sie im Aletschgebiet zu beobachten war, war denn auch Mitautor Florian Amann überrascht: «Für Geologen ist die Geschwindigkeit, mit der sich die Ereignisse an der Moosfluh entwickelt haben, extrem.»

Bemerkenswert an dieser Studie ist die Kombination verschiedener Messmethoden und der Dauer der Überwachung. 2008 stiess der Physiker Tazio Strozzi auf die Moosfluh. Im Auftrag des Bundesamts für Umwelt (BAFU) wertete er satelliten-gestützte Radaraufnahmen aus, um mögliche Naturgefahren frühzeitig zu erkennen. Dabei fiel ihm auf, wie rasch sich die Moosfluh verändert hatte. Kos, damals Oberassistent in der Gruppe für Ingenieurgeologie der ETH Zürich, initiierte daraufhin umgehend ein Forschungsprojekt, um die Ursachen zu untersuchen und involvierte seinen Kollegen Amann.

Durchgeführt wurde die Studie von ETH-Forschenden aus der Professur für Geotechnik der heutigen ETH-Rektorin Sarah Springman. Unterstützt wurden sie  vom BAFU sowie Einzelner aus der Professur für Ingenieurgeologie, der Universität Fribourg sowie verschiedener privater Ingenieurbüros.

Keine zweite Chance

Dass sie diesen Vorgang so detailliert dokumentieren konnten, macht die Autoren stolz. Aus der Literatur sei kein vergleichbares Beispiel bekannt, aus welchem ein direkter Zusammenhang zwischen Gletscherschwund und der Entwicklung einer Felsböschung über lange Zeiträume gemessen werden konnte. «Um einen solchen Datensatz aufzubauen, muss man viele Jahre investieren. Und einen solchen Fall kann man nicht einfach nachstellen, weil der beobachtete Vorgang einzigartig ist. Man hat nur eine einzige Chance, diese Messungen durchzuführen. Wir können sie nicht wiederholen, wenn etwas misslingt», sagt Kos.

Falschfarbbild
Die Falschfarbenbilder machen deutlich, wie stark der Aletschgletscher zwischen 2005 und 2011 an seiner Zunge geschrumpft ist. (Grafik: A. Kos / ETH Zürich / Terrasense)

Als sie mit der Erforschung dieser Entwicklung begonnen hätten, habe sich noch niemand wissenschaftlich mit der Instabilität an der Moosfluh auseinandergesetzt. Durch die massiven Veränderungen der Felsinstabilität im Sommer 2016 hat sich dies schlagartig geändert.

Ob sich die Ereignisse an der Moosfluh auch künftig in diesem atemberaubendem Tempo weiterentwickeln, ist unklar. Die Dauerüberwachung sei nun Sache des Kantons Wallis, sagt Kos «Die für unsere wissenschaftliche Fragestellung relevanten Daten konnten wir erheben.»

Literaturhinweis

Kos A, Amann F, Strozzi T, Delaloye R, von Ruette J, Springman SM. Contemporary glacier retreat triggers a rapid landslide response, Great Aletsch Glacier, Switzerland. Geophysical Research Letters 43, Accepted article online 7 Dec 2016; doi: externe Seite10.1002/2016GL071708

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