Mit einem Augenzwinkern zu ultraschnellen Prozessen

Ultraschnelle Vorgänge vollziehen sich in der Natur jenseits der menschlichen Vorstellungskraft. Auch die Grundlagenforschung kann sie erst seit der Jahrtausendwende messen und erforschen. Ein Buch und eine Ausstellung des Nationalen Forschungsschwerpunkts MUST stellen nun einen Bezug zum Alltag her und laden auf eine Zeitreise ein.

Vergrösserte Ansicht: In den vergangenen Jahren ist die Kurzzeitlaserphysik – wie hier im Attoline-Labor von Ursula Keller – zu immer kleineren Zeiteinheiten vorgestossen: Heute sind Messungen im Bereich der Atto- oder Trillionstelsekunden möglich. (Bild: Heidi Hostettler)
In den letzten Jahren ist die Kurzzeitlaserphysik – wie hier im Attoline-Labor von Ursula Keller – zu immer kleineren Zeiteinheiten vorgestossen: Heute sind Messungen im Bereich der Atto- oder Trillionstelsekunden möglich. (Bild: Heidi Hostettler)

Die Ausstellung, die sich bis Mitte Dezember im Eingangsbereich der Campus Info auf dem ETH-Standort Hönggerberg befindet, lässt sich schnell und gut überblicken. «Schnell» ist dabei Programm: Mehrere Poster zeigen Bildfolgen mit Prozessen, die sehr schnell – oder sehr langsam – ablaufen und geben zugleich einen Einblick in die «Ultrakurzzeitforschung».

Manche Vorgänge ereignen sich in der Natur so schnell, dass selbst ein Wimpernschlag im Vergleich dazu sehr langsam ist. Ultraschnell ist etwa eine Lichtwelle: In bloss zwei Billiardstelsekunden hebt sie sich und senkt sich wieder! Das sind in der Sprache der Forschung zwei Femtosekunden oder als Zehnerpotenz geschrieben 2·10−15 Sekunden.

Noch schneller sind Elementarteilchen wie Elektronen oder Photonen: Wenn sie sich in Molekülen bewegen, dauert das ultrakurze 100 Trillionstelsekunden, beziehungsweise 100 Attosekunden oder 10−16 s. Kein Mensch kann solche ultraschnellen Prozesse mit blossem Auge sehen, und auch für die Grundlagenforschung sind sie vergleichsweise Neuland.

Den Erfahrungshorizont ausdehnen

Dabei spielen sich grundlegende und lebenswichtige, physikalische, chemische und biologische Reaktionen im ultraschnellen Zeitbereich zwischen Nanosekunden (10−9 s) und Attosekunden (10−18 s) ab. Sie zu verstehen, kann helfen, alternative Energien, neue Datenspeicher oder medizinische Anwendungen wie künstliches Blut zu entwickeln.

«Die menschlichen Sinne nehmen Licht und Geschwindigkeit nur sehr begrenzt wahr», sagt Ursula Keller, «Deshalb versuchen wir in der Forschung den Horizont der Erfahrung auszudehnen.» Die ETH-Professorin für Experimentalphysik hat in ihrer Laufbahn selber daran mitgearbeitet, dass die Forschung zu immer kleineren Zeiteinheiten vorgestossen ist.

Erst seit der Jahrtausendwende kann die Grundlagenforschung Vorgänge im Attosekundenbereich messen und untersuchen. Der Durchbruch verdankt sich der Entwicklung neuer Lichtquellen, die, wie zum Beispiel der neue Röntgenlaser SwissFEL des Paul Scherrer Instituts, auf ultrakurzen Licht- und Laserpulsen beruhen.

Heute umfasst die «Ultrakurzzeitforschung» Fächer wie Physik, Chemie, Biologie und Materialwissenschaft, die im Nationalen Forschungsschwerpunkt «Ultraschnelle Prozesse in molekularen Bausteinen» (NFS MUST) vernetzt sind. Ko-Leiterin von MUST ist Ursula Keller, deren Gruppe für Kurzzeitlaserphysik die rasante Entwicklung mitgeprägt hat.

Zehn Schritte vom Augenblick zur Attosekunde

Was für die Forschung Neuland ist, ist für die Öffentlichkeitsarbeit und die Wissensvermittlung in die Schulen eine Herausforderung: Denn wirklich fassbar sind für Fachunkundige weder die ultraschnellen Prozesse noch die Forschungstechnologien noch die mathematischen Notationen und Modelle, die zu ihrer Untersuchung eingesetzt werden.

Um einen Bezug zwischen «Ultrakurzzeitforschung» und Alltag herzustellen, folgten Thomas Feurer, Ko-Leiter des NFS MUST und Physikprofessor der Universität Bern, sowie Anna Garry, Verantwortliche für die Öffentlichkeitsarbeit im NFS MUST, einer Idee, die Jürg Osterwalder, Professor für Oberflächenphysik der Universität Zürich, im Zug gekommen war.

Die Idee war, Fachfremde auf eine Zeitreise zu ultraschnellen Prozessen einzuladen. Das Ergebnis davon war das Buch «A Journey into Time in Powers of Ten» sowie die Ausstellungen an der Scientitifica 2015, am Festival de Science 2016 in Neuenburg und jetzt auf dem Hönggerberg. Ausserdem wird das Material im Austausch mit Schulen eingesetzt.

«Wir möchten Schulen und Öffentlichkeit für unsere Forschung begeistern, sie zum Nachdenken über die Zeit und die Dauer von lebenswichtigen Prozesse bewegen und ihnen zeigen, wie sich diese Prozesse in Zahlen fassen lassen», sagt Anna Garry und erzählt, wie ihr sechsjähriger Neffe fasziniert auf die Bildstrecken reagierte und sofort Fragen stellte.

Ausgangspunkt der Zeitreise ist – im Buch und in der Ausstellung – ein Augenzwinkern: Ein solches dauert eine Sekunde oder umgerechnet 100 s. Ein Augenblick ist im Alltag die kleinste gefühlte Einheit, in der ein Mensch Ereignisse seiner Umwelt wahrnimmt. Davon ausgehend führt die Reise in zehn Schritten vom Augenblick zu den Attosekunden.

Jeder Schritt entspricht einer Zehnerpotenz und ist mit einer kurzen Erzählung verbunden, die einen Aspekt der Ultrakurzzeitforschung vorstellt. Neben naturwissenschaftlichen Fakten kommen auch Ausschnitte aus dem Alltag der Forschenden vor. Auf diese Weise wird das zahlenmässige Nachdenken über lebenswichtige Vorgänge anschaulich und verständlich.

Einsicht in schnelle und langsame Prozesse

Einen Gedanken fasst ein Mensch in einer Zehntelsekunde oder 10-1 s. Um 100 Meter zu rennen, braucht er rund 10 Sekunden oder 101 s. Wer im Zug von Zürich nach Genf reist, benötigt zweidreiviertel Stunden oder 104 s. Ein Blitzschlag auf der anderen Seite ereignet sich in 10-4 s.

Ein Doktorand im vierten Jahr hat rund 108 s für seine Ausbildung eingesetzt. 10-8 s dauert es, wenn eine Qualle im Meer grün aufleuchtet. «Den Schritt vom Augenzwinkern zum Sprint kann man sich gut vorstellen. Indem wir diesen Zehnerschritt zehnmal machen, gelangen wir auf nachvollziehbare Weise zu unserer Forschung», erklärt Thomas Feurer.

«Da sich viele Menschen die Zehnerpotenzen im Minusbereich noch schlechter vorstellen können als solche im Plusbereich, haben wir den schnellen Prozessen die langsamen gegenübergestellt.» Der langsamste, in Buch und Ausstellung vorgestellte Prozess ist die Entstehung der Milchstrasse, die sich über 30 Mrd. Jahre oder 1018 s hinzieht.

Vergrösserte Ansicht: Ursula Keller, Anna Garry und Thomas Feurer (v.l.n.r.).
Ursula Keller, Anna Garry und Thomas Feurer vom NFS MUST (v.l.n.r.). (Bild: ETH Zürich / Nadia Sigrist)
 In zehn Zehnerschritten vom Augenzwinkern zu den Attosekunden – dazu lädt die Ausstellung «A Journey into Time in Powers of Ten» auf dem Hönggerberg ein. (Bild: ETH Zürich)
In zehn Zehnerschritten vom Augenzwinkern zu den Attosekunden – dazu lädt die Ausstellung «A Journey into Time in Powers of Ten» auf dem Hönggerberg ein. (Bild: ETH Zürich)

Buch und Ausstellung

Anna Garry, Thomas Feurer. A Journey into Time in Powers of Ten. Zürich: externe Seitevdf Hochschulverlag an der ETH Zürich, 2016. Das Buch ist auch externe Seiteonline und in den Filialen des ETH Store erhältlich.

Die Ausstellung «A Journey into Time in Powers of Ten» befindet sich in der Campus Info im Gebäude HIL im Raum D 26.5 auf dem Standort Hönggerberg. Die Campus Info ist von Montag bis Freitag von 7:30 – 17:00 Uhr geöffnet.

JavaScript wurde auf Ihrem Browser deaktiviert