Brot und Spiele: Agrarwissenschaften als attraktives ETH-Studium

Agrarwissenschaften? Kann man das heute überhaupt noch studieren? Und wozu soll das gut sein? Das sind Fragen, mit denen man als Dozent oder Studierender dieses Studiengangs immer wieder konfrontiert wird. Dabei ist das Studium zeitgemässer denn je – nicht nur, weil auf das Herbstsemester 2016 neue BSc- und MSc-Reglemente in Kraft treten.

Vergrösserte Ansicht: Fussbaldfeld auf Weizen
(Bild: Colourbox / Bearbeitung ETH Zürich)

Es gibt Bereiche des Lebens, die man nicht mit einem Hochschulstudium assoziiert. Essen und Trinken gehören sicher dazu. Fussballspielen vermutlich auch. Wir halten es für selbstverständlich, dass Ackerbau betrieben und Nahrung produziert wird. Natürlich wissen wir, wie das am besten geht. Jeder, der sich ein bisschen mit der Materie beschäftigt, weiss ja auch, wie die Nationalmannschaft am besten aufgestellt und vorbereitet wird.

Die scheinbare Trivialität des Alltäglichen

So viel zur Theorie. In der Praxis ist die Sache komplexer. Weizen wächst nur dann, wenn er zur rechten Zeit die richtigen Nährstoffe erhält. Kühe geben nur dann Milch, wenn sie immer wieder befruchtet werden. Bauern können auf unserem Kontinent nur dann von ihrem Handwerk leben, wenn staatliche Regulationen für konkurrenzfähige Preise sorgen. Bei jedem dieser und ähnlicher Punkte könnte man nun in die Tiefe gehen und würde erkennen: Die natur- und sozialwissenschaftlichen Grundlagen sind alles andere als trivial. Wichtige Zusammenhänge müssen noch besser erforscht werden; vieles entwickelt sich weiter und benötigt daher eine stetige Neubeurteilung.

Umweltsysteme passen nicht in eine Formel

Nahrungsmittel herzustellen ist eine komplexe Angelegenheit. Jede Form von Produktion, jede Ernte, ja jedes Sammeln zeitigt Nebenwirkungen, derer wir uns oft erst Jahre oder sogar Generationen später bewusst werden. Die Bevölkerungsdichte unseres Planeten hat ein Ausmass erreicht, das kein komplettes «Zurück zur Natur» mehr zulässt. Auch Bio-Landwirtschaft braucht Düngung, selbst vegane Lebensformen basieren auf ertragsoptimierten Kulturpflanzen. Was wir wo und mit welcher Intensität produzieren; wie wir diejenigen Organismen und Mechanismen befördern, die natürlicherweise unsere Nahrungsmittel- produktion unterstützen – und wie wir umgekehrt die Myriaden von Pilzen, Bakterien und Viren in Schach halten, die sich rasch und effizient auf unsere Lieblingsprodukte eingestellt haben –, darauf gibt es keine in eine einfache Formel zu packende Antwort.

Was es gibt, sind Lösungsansätze. Lösungsansätze, von denen wir von vorneherein wissen, dass sie auch Nachteile mit sich bringen. Gentechnik – riskant. Bio-Landwirtschaft – teuer. Mehr Diversität in unseren Agrarsystemen – das dauert. Was also tun? Umschalten? Gute Idee für alle Fernsehsessel-Nationaltrainer, aber keine Option für das echte Leben. Wegschauen hiesse hier, denjenigen das Feld überlassen, die in einem hoch komplexen System ihre individuellen Partikularinteressen durchzusetzen versuchen. Das geht auf Dauer nicht gut; Fussball ist ein Teamsport – und Nahrungsmittelproduktion ist eine global vernetzte Angelegenheit, die in Prozessketten und Netzwerken funktioniert. Daher müssen wir unseren Studierenden die Diversität der Produktionsprozesse aufzeigen und sie dazu befähigen, die Vor- und Nachteile der verschiedenen Lösungsansätze zu erkennen.

Die Rolle der ETH für die Ernährung der Welt

Vergrösserte Ansicht: Sortenversuche
Sortenversuche an Weizen (Vordergrund) und Soja (Hintergrund) auf einem Versuchsfeld der ETH Zürich. (Bild: ETH Zürich / Arbeitsgruppe Walter)

Ich finde, eine Hochschule, die den Anspruch hat, die Gesellschaft im Hinblick auf technische Lösungen und Wertvorstellungen in eine tragfähige Zukunft zu manövrieren, muss sich heutzutage der Frage stellen, wie sich die Menschheit in Zukunft ernähren kann. Hunger, Fehlernährung, Umweltzerstörung, Klimawandel sind regelmässige Themen dieses Blogs. Eine ernsthafte, facettenreiche Ausbildung in den Agrar- und Lebensmittelwissenschaften an der ETH trägt dazu bei, die grossen Fragen unserer Gesellschaft fundiert anzugehen. Studierende der Agrarwissenschaften brauchen deshalb das bestmögliche Wissensfundament in den Natur- und Sozialwissenschaften. Aber sie brauchen noch mehr: Sie müssen sich an echten Fragestellungen erproben. Exkursionen und Praktika sind daher ein unverzichtbarer Bestandteil eines solchen Studiums. Praktika in Laboren, auf dem Bauernhof, in Ämtern und Betrieben der Agro-Food-Branche des In- und Auslands. Problem-based learning heisst das in der Hochschullandschaft; Spielpraxis bei den Fussballern.

Neue Reglemente für unser BSc- und MSc-Studium

Auf das HS 2016 werden deswegen neue Reglemente für das BSc- und MSc-Studium der Agrarwissenschaften in Kraft treten. Wir haben diese in einem partizipativen Ansatz in den vergangenen zwei Jahren erarbeitet [1]. Unsere Studierenden werden in Zukunft mehr Spielpraxis auf dem nationalen und internationalen Parkett erhalten. Das heisst, sie werden teilweise veränderte Vorlesungen, vor allem aber längere, besser vor- und nachbereitete Praktika durchlaufen, in denen sie sich stärker als bisher an Fallbeispielen und Projektarbeiten fortbilden. So können sie zu Führungsspielern heranreifen und dafür sorgen, dass unser tägliches Brot nicht nur heute da ist, sondern auch in Zukunft – nicht nur bei uns, sondern auf der ganzen Welt – nicht nur preiswert, sondern so, dass Produktion und Verzehr möglichst lebenswert gestaltet werden können.

Weiterführende Informationen

[1] Walter et al. 2015: Kurzbericht in Agrarforschung Schweiz: externe SeiteDie ETH Zürich reformiert das Studium der Agrarwissenschaften

Zum Autor

Achim Walter (Bild: Susi Lindig)
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