Zukunftsfähigkeit braucht Zeit

Slow Food, Slow Mobility, und passend zum Frühling Slow Gardening. Entschleunigung ist im Trend. Mehr bewusste Langsamkeit fordert auch Slow Science: Die Forschung sei zu hastig, einseitig und kompetitiv geworden. Dabei braucht gerade die Nachhaltigkeit viel Zeit.

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Wissenschaft braucht Zeit zum Denken. (Illustration: © Coloures-pic - Fotolia.com)

Vermehrt tauchen an Universitäten Rufe nach einer langsameren Wissenschaft auf. Vor einigen Jahren hat ein Slow Science Manifest zu einem Rascheln in der Wissenschaftspresse geführt [1]. Neuerdings vertritt die Science in Transition Bewegung in Holland ähnliche Anliegen [2]. Kritisiert wird, dass eine Wissenschaft, die immer schneller überraschende Durchbrüche produzieren will, dies auf Kosten der Qualität tut. «Weniger statt mehr, langsamer statt schneller» fordern auch prominente Wissenschaftler. Stanford-Professor John Ioannidis analysiert seit vielen Jahren die mangelhafte Qualität von schnell produzierten Studien [3]. Nobelpreisträger erklären, sie hätten ihre genialen Einsichten in der heutigen akademischen Welt nicht erarbeiten können [4]. Viele sehen die Wurzel des Übels im Druck, so viel wie möglich zu publizieren («publish or perish»), und in der Vermessung der akademischen Leistung von Wissenschaftlern und Universitäten durch Indikatoren und Rankings [5].

Junge Genies und alte Meister

Pablo Picasso
Pablo Picasso - ein junges Genie. (Bild: flickr / andres musta)

Von der Beschleunigung des Forschungsbetriebs sind Wissenschaftlerinnen, welche langfristige Lösungen für komplexe Umweltprobleme entwickeln möchten, besonders stark betroffen. Der Ökonom David Galenson zeigt in seinem Buch «Old Masters and Young Geniuses» auf, dass es in verschiedenen kreativen Bereichen – Kunst, Literatur, Film, Wissenschaften – zwei Typen von überragenden Persönlichkeiten gibt: die jungen Genies und die alten Meister [6]. Die jungen Genies produzieren Meisterwerke bereits in jungen Jahren und überraschen immer wieder mit ungewohnten Ideen. Beispiele sind Pablo Picasso, Orson Welles, und Albert Einstein. Junge Genies denken konzeptionell und wissen, was sie erreichen wollen. Die Wissenschaftswelt glaubt an junge Genies.

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Ein alter Meister: Charles Darwin. (Bild: flickr / APS Museum)

Die alten Meister hingegen schaffen ihre besten Werke in fortgeschrittenem Alter, und sie arbeiten oft ein Leben lang an einem grossen Lebensthema. Beispiele sind Paul Cézanne, Louise Bourgeois, und Charles Darwin (oder Elinor Ostrom). Alte Meister benutzen ein experimentelles Vorgehen des schrittweisen Lernens und lassen sich vielseitig beeinflussen.

Die Umweltwissenschaften benötigen alte Meisterinnen und Meister. Auf dem Weg in eine zukunftsfähige Gesellschaft sind Erfahrung, Zeit fürs Scheitern und die Geduld, anderen zuzuhören, mehr denn je gefragt. Geniale Einfälle allein reichen nicht. Das gleiche Spannungsfeld zwischen jungen Genies und alten Meistern erkennen auch andere Gestalter unserer Gesellschaft als wachsende Herausforderung, zum Beispiel Designer [7].

Das Zen der langsamen Wissenschaften

In wenigen Wochen beginnen mit den Sommersemesterferien die Monate der frei gestaltbaren Zeit für uns Wissenschaftler. Wer diese produktiv verbringen will, dem empfehle ich die drei Prinzipien des Zens der langsamen Wissenschaften.

Auch in einem vergilbten Buch findet sich noch mancher neuer Gedanke.

Wer heutzutage erfolgreich einen wissenschaftlichen Artikel publiziert, schreibt einen möglichst kurzen Artikel und erstellt eine Zusammen-fassung (Abstract – maximal 200 Wörter), ein Bild der Zusammenfassung (Graphical abstract), eine Zusammenfassung der Zusammenfassung (In a nutshell), und eine Zusammenfassung der Zusammenfassung der Zusammenfassung (ein Tweet auf Twitter). Viele Zeitschriften informieren zudem ihre Autoren, wie man Titel und Schlagworte von Artikeln so wählt, dass diese in Google prominent erscheinen. Ein junger Kollege hat mir kürzlich stolz erzählt, dass sein erster Tweet in einer wissenschaftlichen Zeitschrift zitiert wurde. Artikel, welche älter als zehn Jahre sind, werden hingegen kaum mehr zitiert. Dabei sind Zitierungen die wichtigste akademische Währung, und diese gibt es vermehrt aufgrund der Aufmerksamkeit im Web 2.0 statt aufgrund der Qualität der Arbeit. Und: Ohne Take Home Message keine Zitierungen. Es lohnt sich übrigens, jede Take Home Message in Klammer mit einem eingängigen Begriff zu versehen (TIMICI-Strategie [8]).

Vergrösserte Ansicht: Schnecke auf vergilbtem Buch
© iStock.com / Vitaliy_ph

Stattdessen für einmal das Prinzip des vergilbten Buches: Drucken Sie einige wichtige Artikel aus und lesen Sie diese von Beginn bis Ende sorgfältig durch. Wählen Sie mindestens einen Artikel aus dem letzten Jahrtausend. Warum nicht endlich einmal «Über die Entstehung der Arten» von Darwin oder «Der Wohlstand der Nationen» von Adam Smith vollständig durcharbeiten? Schliesslich haben die Kurzfassungen dieser beiden dicken Schmöker bereits zu manchem Missverständnis geführt.

Wer mal nach links, mal nach rechts schaut, oder sich im Kreise dreht, findet öfters einen versteckten Pfad.

Will man heutzutage Professorin werden, muss man dieses Ziel bis 35 erreicht haben. Da bleibt keine Zeit für eine breite Ausbildung, Umwege in der Karriere, Zweifel, ausserakademisches Engagement, langwierige Feldarbeit in abgelegenen Gebieten, riskante Forschungsideen, Kommunikation der Forschungsresultate an die Öffentlichkeit, oder schlicht für die Familie. All dies wären aber essentielle Zutaten für die inter- und transdisziplinäre Arbeit der Gestalter einer nachhaltigen Gesellschaft.

Wegweiser
(Bild: freedigitalphotos / Mister GC)

Deshalb der Merksatz des versteckten Pfades: Lassen Sie sich ablenken. Feilen Sie an ihrem Vorlesungsskript. Fragen Sie ihren Nachbarn, was er von ihrer Forschung hält und wie Sie diese verbessern könnten. Hüten Sie die Kinder ihrer Doktoranden. Lesen Sie die Artikel ihrer fachfremden Kolleginnen am Department. Und offerieren Sie das nächste Mal die Doktoratsstelle der Kandidatin oder dem Kandidaten mit den schlechten Statistik-Kenntnissen. Während er die Vorlesungen schwänzte, hat er sicher Sinnvolles gelernt (allerdings ohne Bologna-konforme Kreditpunkte zu erreichen).

Irgendwann lernt der Spatz in der Hand das Singen. Die Taube auf dem Dach aber hat immer schon das nächste Dach im Blick.

Insgeheim sind wir alle überzeugt, dass uns ein wissenschaftlicher Geistesblitz vor einer ökologischen Katastrophe retten wird. Die Kernphysiker am CERN werden eine neue Energiequelle entdecken oder die Biotechnologen hyper-effiziente Organismen entwickeln. Der Haken dabei: geniale Ideen reichen nicht, es braucht auch funktionierende Lösungen. Jede Innovation bringt in der Umsetzung einen Rattenschwanz von Herausforderungen mit sich, die gelöst werden müssen. Der Computer war schnell erfunden. Seither stellt sich die Gesellschaft auf diese neue Technologie ein: Mit neuer Berufsausbildung und Fachpersonen, angepassten Institutionen und Gesetzen, Wissen zu den sozialen und ökonomischen Folgen, und bereits in der Grundschule lernen wir einen verantwortungsvollen Umgang mit Computern. Der Umwelthistoriker Joseph Tainter geht sogar so weit, den Kollaps vergangener Gesellschaften (zum Beispiel des Römischen Reiches) durch die zunehmend verfeinerte Regulation von Innovationen zu erklären: Gesellschaften werden dadurch immer komplexer, bis sie keine freie Ressourcen mehr haben und aufgrund von Überforderung zerfallen [9]. Der schwierige Umgang mit bestehenden Innovationen fordert Gesellschaften heraus – die schnellen Wissenschaften aber honorieren stets das Neue.

Vergrösserte Ansicht: Spatz in der Hand
© iStock.com/zizar2002

Deshalb das Prinzip des singenden Spatzes: Verkennen Sie nicht die stillen Schaffer. Erlauben wir uns ein Gedankenexperiment: Was, wenn wir in den nächsten Jahrzehnten, die für den Weg in eine nachhaltige Gesellschaft entscheidend sein werden [10], keine revolutionären wissenschaftlichen Durchbrüche mehr erreichen oder solche nicht umsetzen können? Wir müssten bestehendes Wissen nutzen, verbessern, neu zusammenfügen und breit kommunizieren. Und wir wünschten uns mehr alte Meister, die dafür bereits seit 30 Jahren im Stillen Erfahrungen sammelten.

Weiterführende Informationen

Christoph Küffer hat diesen Beitrag im Sinne des Themas ganz bewusst zu lang verfasst. Auch die Liste weiterführender Literatur ist zu umfangreich für einen Blog. Aber wer sich die Zeit genommen hat, bis hierher zu lesen, der hat vielleicht Lust auf mehr.

Referenzen:

[1] externe SeiteBlogs Scientific American

[2] externe SeiteScience in transition

[3] externe SeiteThe New Yorker oder externe SeiteThe Economist  

[4] externe SeiteSydney Brenner, externe SeitePeter Higgs and externe SeiteRandy Schekman

[5] Zum Beispiel ETH-Professor Harald Bugmann: ETH quo vadis  

[6] externe SeiteThe New Yorker

[7] externe SeiteMetropolis

[8] "This Is My Idea, Cite It”-Strategie

[9] Joseph Tainter 1988. The collaps of complex socities. Cambridge, UK: Cambridge University Press. Siehe zum externe SeiteBeispiel

[10] Siehe Blogbeiträge Are we prepared for post-collapse? und Die echte Debatte beginnt jetzt

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