Auf der Suche nach den Quellen des DenkensIntelligentes Wissen als Spielwiese der Kreativität
Der Primarlehrer hatte wohl auf eine längere Verschnaufpause gehofft, als er vor mehr als 200 Jahren seine Schüler aufforderte, die Summe der Zahlen von 1 bis 100 zu ermitteln. Die Kinder begannen «1+2=3+3=6+4=10+5=15+6=?» auf ihre Tafel zu schreiben, und es blieb zu hoffen, dass selbst der kleine Carl Friedrich Gauss eine ganze Weile brauchen würde, um «. . .=4851+99= 4950+100=» zu erreichen. Aber die Rechnung des Lehrers ging nicht auf: Nach kurzer Zeit hatte der Knabe die korrekte Lösung «5050» ermittelt, indem er das Produkt aus den 50 Zahlenpaaren mit der Summe 101 (1+100, 2+99, . . ., 50+51) bildete. Der Neunjährige hatte die Grundlagen für die Summenformel 1/2 n (n+1) gelegt, die späteren Generationen den Zugang zu komplexen mathematischen Zusammenhängen erleichterte. Faszination für Zahlen und schöpferischer Umgang mit diesen liessen den kleinen Gauss zeitlebens nicht mehr los. Er schuf zahlreiche mathematische Konzepte, die die Wissenschaften in der darauffolgenden Zeit revolutionierten. Die Gausssche Glockenkurve legte den Grundstein für die empirischen Sozialwissenschaften und ermöglichte beispielsweise die Intelligenzmessung in der Psychologie.
Keine besonderen Merkmale im Gehirn
Was genau ist es, das manche Menschen in die Lage versetzt, wie Gauss etwas Neues und Kreatives zu schaffen, das – nicht selten nach einer mehr oder weniger langen Periode der Skepsis – breite Akzeptanz findet? Gibt es vielleicht mehr oder weniger kreative Gehirne? Hier muss die Wissenschaft bis jetzt passen. Trotz grossen Bemühungen ist es nicht einmal ansatzweise gelungen, besondere Merkmale in den Gehirnen sehr erfolgreicher und kreativer Menschen zu identifizieren. Das traf auch für das in Formalin eingelegte Gehirn von Gauss zu, das kürzlich mit modernsten neurowissenschaftlichen Methoden untersucht wurde.
Aber auch die Versuche der Psychologie, kreative Persönlichkeiten mit Hilfe von Tests zu ermitteln, verliefen nicht eben zufriedenstellend. Bestenfalls konnte gezeigt werden, dass hohe Intelligenz und geringe Ängstlichkeit kreative Leistungen begünstigen, aber wer hoffte, präzise Vorhersagen über das kreative Potenzial einzelner Personen zu erhalten, wurde enttäuscht. An der Vanderbilt University in Tennessee in den USA wird der Zusammenhang zwischen Kreativität im mathematischen und naturwissenschaftlichen Bereich (nachgewiesen durch Patente oder wissenschaftliche Veröffentlichungen) und Intelligenz untersucht. Dabei zeigt sich, dass zwar mit jedem IQ-Punkt die Wahrscheinlichkeit ansteigt, eine kreative Leistung zu erbringen, aber das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass längst nicht alle Höchstintelligenten kreative Leistungen vorweisen können. Umgekehrt sind viele innovative Beiträge auf Menschen zurückzuführen, deren Intelligenz zwar klar über dem Durchschnitt, aber keineswegs im absoluten Spitzenbereich liegt.
Der kleine Gauss hätte sicher hohe Punktwerte in Intelligenztests erreicht, hätte es diese vor 200 Jahren bereits gegeben. Aber das allein könnte seine kreative Rechenoperation noch nicht erklären. Worin er sich von seinen Klassenkameraden unterschied, die brav die Zahlen der Reihe nach addierten, waren Qualität und Quantität seines mathematischen Wissens. Für ihn waren Zahlen mehr als nur der Grösse nach geordnete Instrumente zur Quantifizierung konkreter Mengen. Die Zahl 3 beispielsweise war in seinem Wissensnetzwerk nicht einfach nur die Zahl zwischen der 2 und der 4, sondern auch eine Primzahl, die Wurzel aus 9, die Differenz zwischen 97 und 100 und vieles mehr. Dank diesem vielfach vernetzten Zahlenwissen verband er die 1 mit der 100 statt wie geheissen mit der 2.
Aus der Expertiseforschung ist seit langem bekannt, dass Art und Umfang des Wissens in einem Fachgebiet entscheidend sind für herausragende Leistung. So können sich Experten Information, die ihr Fachgebiet betrifft, sehr viel besser merken und bei Bedarf aus dem Gedächtnis abrufen, als dies Personen können, die in dem Gebiet über weniger Kenntnisse verfügen. Es gibt nicht per se das gute oder schlechte Gedächtnis (von pathologischen Fällen abgesehen), sondern es gibt die mehr oder weniger erfolgreiche Integration eingehender Information in bestehendes Wissen.
Entscheidend für kreative Leistung ist aber vor allem die Qualität des Begriffswissens. So ist im Alltagsverständnis vieler Menschen eine Maschine etwas, was sich bewegt, Krach macht und Energie verbraucht. Physiker und Ingenieure hingegen verstehen darunter eine Vorrichtung, welche die vorhandene Kraft möglichst zweckmässig zur Verrichtung von Arbeit einsetzt. Für sie sind Schnürsenkel und Schrauben ebenso Maschinen, wie der Porschemotor eine ist. Erst ein solches abstraktes, auf theorie- und funktionsgeleiteten Merkmalen beruhendes Konzeptverständnis – eben intelligentes Wissen – bietet den Nährboden für kreative und innovative Denkprozesse in naturwissenschaftlichen und technischen Bereichen. Wie aber erwirbt man eine solche Wissensbasis?
Die Expertiseforschung lehrt uns, dass tatsächlich Übung den Meister macht, aber sie muss intelligent angelegt sein. Gauss war ein exzellenter Kopfrechner, aber es ist nicht davon auszugehen, dass er das Einmaleins stupide auswendig gelernt hat, sondern dass sein gut funktionierendes arithmetisches Wissensnetzwerk das beiläufige Resultat der intensiven und zeitaufwendigen Beschäftigung mit interessanten mathematischen Problemstellungen war. Dazu hatte der kleine Gauss bald Gelegenheit, denn sein weitsichtiger Primarlehrer sorgte dafür, dass er auf eine höhere Schule kam. Dort konnte er sein Wissensnetz um nicht natürliche Zahlen und andere Konzepte der damaligen Mathematik erweitern. So wurde mit der Zahl 3 wohl bald auch die Kreiszahl π assoziiert, die der grosse Gauss dann brauchte, um die Normalverteilung in eine Formel zu fassen.
Geeignete Lerngelegenheiten
Es mussten von Anfang an viele glückliche Umstände zusammenkommen, damit ein Carl Friedrich Gauss seine allgemeine Intelligenz und seine Spezialbegabung in Mathematik so kreativ umsetzen konnte, wie er es getan hat. Keine Lehrperson und keine Schule kann so etwas erzwingen. Aber durch Lerngelegenheiten, die auf den Aufbau einer intelligenten Wissensbasis abzielen, wird die Wahrscheinlichkeit für kreative Leistung erhöht. Beginnt beispielsweise der Physikunterricht mit Definitionen und Formeln für Dichte und Auftrieb, führt dies – wie viele Studien zeigen – zu trägem Wissen, das repetiert, aber nicht auf neue Situationen übertragen werden kann. Beginnt man hingegen mit der Frage, warum ein grosses, schweres Schiff aus Stahl im Wasser schwimmt, während ein kleines Stück Stahl untergeht, wird bereits bei achtjährigen Kindern der Forschergeist geweckt, wie meine Kollegen und ich zeigen konnten. Wenn dann gut aufeinander abgestimmte Arbeitsaufträge folgen, kann bereits in der Primarschule generalisierbares physikalisches Wissen aufgebaut werden. So wussten viele Kinder nach dem Unterricht, dass Objekte, die in Wasser schwimmen, im leichteren Öl untergehen können, obwohl dies gar nicht thematisiert wurde.
Viele wissenschaftliche Begriffe haben entweder keinen direkten Bezug zu Alltagserfahrungen, oder aber sie werden im wissenschaftlichen Kontext anders verwendet, wie beispielsweise Trägheit und Kraft in der Physik. Wenn auch überdurchschnittlich intelligente Kinder im Laufe ihrer Schulzeit ihr Interesse an mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern verlieren, liegt dies vor allem daran, dass sie weder die Zeit noch die Lerngelegenheiten bekamen, die nötig sind, um abstrakte wissenschaftliche Begriffe in ein bestehendes Wissensnetzwerk zu integrieren. Aus der Lehr- und Lernforschung wissen wir heute recht gut, wie ein Unterricht aussehen sollte, der allen Schülerinnen und Schülern zu einer besseren Allgemeinbildung verhilft und einige von ihnen auf kreative Höhenflüge vorbereiten kann. Jetzt gilt es, diese Erkenntnisse auch umzusetzen.