Wie familienfreundlich ist die ETH?

«Alles beginnt und endet mit der Familie», sagte ETH-Präsident Lino Guzzella am Schulleitungsapéro 2017. Aber passen Spitzenforschung und ein erfülltes Familienleben wirklich zusammen? Und ist eine ETH-Karriere als Elternteil überhaupt möglich?

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Mina bei ihrem ersten Besuch in der flexiblen Krippe «Flex Zentrum» (Alle Bilder: Gian Marco Castelberg / ETH Zürich)

«Das ist Essen!», sagt Mina und versucht die Plastikflasche, die mit rohen Hörnli gefüllt ist, vergeblich zu öffnen. Auch von der Aussage des Betreuers, es handle sich hierbei um ein selbst gebasteltes Musikinstrument, lässt sich die Dreijährige nicht beirren. Von ihrer Meinung überzeugt, wiederholt Mina, dass es sich bei dem Inhalt eindeutig um Nahrungsmittel handelt, und schraubt weiter mit aller Kraft an dem angeklebten Deckel. Etwas abseits steht der zwei Jahre alte Florian und beobachtet die Szene von der Seite. Beide sind Kinder von ETH-Mitarbeitern und wurden an diesem Freitagnachmittag zum ersten Mal in die Krippe «Flex Zentrum» zur Betreuung übergeben.

Seit Oktober 2017 können ETH-Angehörige ihre vier Monate bis sieben Jahre alten Kinder nicht nur am Standort Hönggerberg, sondern auch im Zentrum bis 24 Stunden im Voraus online anmelden und betreuen lassen. Initiiert wurde das Projekt von HR-Leiter Lukas Vonesch und Renate Schubert, der Leiterin der Stelle für Chancengleichheit Equal! und Gender-Delegierten des ETH-Präsidenten. «Wir haben gesehen, dass es an der ETH ein grosses Bedürfnis für solch ein Angebot gibt», erklärt Renate Schubert. In nur fünf Monaten ist aus der Idee das erste flexible Krippenangebot der ETH entstanden. Heute werden beide flexible Krippen gerne und häufig von Studierenden, Doktorierenden und Mitarbeitenden genutzt.

«Kinder sind bei uns kleine Forscher»

Kihz Flex gehört zum breiten Angebot der Stiftung kihz, die gemeinsam von ETH und Universität Zürich getragen wird. Die Stiftung bietet vor allem acht reguläre Kindertagesstätten sowie Ferienbetreuung und den Service «kihz Mobil». Dieser ermöglicht eine Betreuung von Kindern, deren Eltern an einem ETH-Event teilnehmen. Ausserdem unterstützen kihz-Mitarbeitende Eltern bei der Suche nach alternativen oder kurzfristigen Betreuungslösungen, beispielsweise durch die Vermittlung von professionellen Nannys aus dem kihz-eigenen Springerpool.

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Der kihz Flex-Gruppenleiter Sharon Rosenberg wurde bei der letzten Elternumfrage in höchsten Tönen gelobt.

Für die Geschäftsführerin der Stiftung, Monika Haetinger, steht die Qualität der Betreuung an oberster Stelle. «Kinder sind bei uns kleine Forscher. Wir gehen auf die individuellen Bedürfnisse jedes Kindes ein und fördern gezielt dessen Interessen, Kreativität und Neugierde mit unserem Programm. Weder Herkunft noch Religion oder Geschlecht spielen für uns irgendeine Rolle», sagt Haetinger.

Zudem achtet die Geschäftsführerin auf geschlechtsdurchmischte Teams. In fast jeder kihz-Kita ist mindestens ein männlicher Betreuer angestellt, bei einer Krippe ist die Hälfte der betreuenden Personen männlich.

Flexibel auf Bedürfnisse eingehen

Die ETH-Servicestelle «Hello Kids!» bietet zwar keine konkrete Betreuung, aber umfassende Informationen für (werdende) Eltern und hilft ETH-Angehörigen bei der Suche nach familienergänzender Betreuung. Dabei unterbreitet «Hello Kids!» Lösungsvorschläge, die auf die verschiedenen Bedürfnisse abgestimmt sind. Ausserdem werden die Zusatzkosten für die Betreuung von Säuglingen zwischen 4 und 18 Monaten von der ETH üernommen – Hello Kids! vermittelt die Beiträge. Doktorierende und Postdoktorierende werden auch durch die Robert-Gnehm-Stiftung finanziell unterstützt, wenn sie für ihre Kleinkinder während der Teilnahme an internationalen Konferenzen zusätzliche Betreuungskosten haben.

Noch wichtiger als finanzielle Unterstützung ist laut dem HR-Leiter aber die Flexibilität, die an der ETH geboten wird. 28 Prozent der ETH-Angehörigen arbeiten in einem Teilzeitpensum. «So einen hohen Anteil habe ich noch nirgends gesehen», sagt der 54-Jährige, der vor drei Jahren an die ETH kam. Auch dem Arbeitsmodell «Home Office» steht Lukas Vonesch sehr offen gegenüber. In seiner eigenen Abteilung arbeiten zahlreiche Mitarbeitende regelmässig von zuhause aus.

Angehörigenpflege im Fokus

Mittlerweile ist es drei Uhr nachmittags. Florian malt zusammen mit einer Betreuerin Hasenbilder aus, während Mina versucht, so viele Tennisbälle wie möglich in ihrem Kleid zu bunkern.

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Marianne Mandrin geht regelmässig mit ihrer Mutter und dem ­gemeinsamen Hund ­Jacky spazieren.

Fast zur gleichen Zeit und nur 45 Kilometer entfernt fährt Marianne Mandrin, die Assistentin der ETH-Rektorin Sarah Springman, ihre 79-jährige Mutter von einem Arztbesuch nach Hause. Marianne hat heute frei. «Das Wunderbare an der ETH und vor allem auch an Sarah ist, dass ich hier die Gewissheit habe, dass ich bei einem Notfall sofort nach Hause gehen kann, dass ich auch mal später ins Büro kommen kann oder allenfalls spontan frei nehmen könnte», sagt Marianne. «Family first!» laute das Credo der Rektorin. Ihr Arbeitspensum konnte Marianne ebenfalls reduzieren, seit ihre Mutter nach einer schweren Rückenoperation ihre Unterstützung benötigt.

Generell sei man an der ETH für das Thema Angehörigenpflege aber deutlich weniger sensibilisiert als für die Kinderbetreuung, hört man mancherorts. Daran wollen Renate Schubert und Lukas Vonesch nun gemeinsam arbeiten. So sollen Vorgesetzte und Mitarbeitende ermutigt werden, solche Situationen offen und vertrauensvoll zu besprechen, um gemeinsam gut funktionierende Lösungen zu erarbeiten. «Dieses Thema betrifft viele ETH-Angehörige. Es ist aber leider häufig noch ein Tabuthema und ich kann verstehen, dass das zu Verunsicherung führt. Wir werden uns dem Thema verstärkt widmen, denn die Vereinbarkeit von Familie und Karriere geht deutlich über die Kinderbetreuung hinaus», sagt Schubert.

Und die Voraussetzungen für eine Verbesserung in diesem Bereich sind an unserer Hochschule gegeben. «Solange die Leistung stimmt, ist an der ETH in Bezug auf Arbeitszeit und Arbeitsort viel Flexibilität möglich – das habe ich so noch nirgends in der Privatwirtschaft angetroffen», sagt Marianne und nimmt den Rollator ihrer Mutter aus dem Auto.

«Forschung ist wie Leistungssport»

Diese Flexibilität sieht auch Physik-Professor Renato Renner als einen Hauptfaktor für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Der aktuelle ALEA Award-Gewinner hat viele Eltern in seiner Forschungsgruppe und versucht so flexibel wie möglich auf die verschiedenen Bedürfnisse seiner Mitarbeitenden und Doktorierenden einzugehen.

Dass er selbst als ETH-Doktorand zum ersten Mal Vater wurde, hält der 43-Jährige für die beste Entscheidung seines Lebens. Vor allem bei Doktorandinnen sei es aber wichtig, dass sie durch den Mutterschaftsurlaub keine grossen Nachteile haben, indem der Informationsfluss auch in dieser Zeit sichergestellt wird und ihnen auch nach der Pause wichtige Projekte ermöglicht werden. Zudem sollten Sitzungen möglichst nicht abends stattfinden. «Eltern arbeiten oft effizienter, da sie sich ihre Zeit besser einteilen müssen», sagt Renner und gibt dennoch zu bedenken: «Spitzenforschung ist wie Leistungssport. Wer zu lange pausiert oder sein Pensum zu stark reduziert, hat gegen die enorme internationale Konkurrenz kaum eine Chance.»

Bedingungen laufend verbessert

Wenn beide Elternteile eine berufliche Karriere anstreben, sei das die grösste Herausforderung, sagt Renate Schubert. «Um die Vereinbarkeit einer erfolgreichen ETH-Karriere und eines erfüllten Familienlebens zu unterstützen, verbessern wir die Bedingungen an der ETH kontinuierlich», betont die Gender-Delegierte. Rückmeldungen von den ETH-Angehörigen selbst seien dabei sehr wichtig.

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Mina und ihr fünfjähriger Bruder Akito erkunden den krippeneigenen Spielplatz.

«Ich bin meiner Frau sehr dankbar, dass sie ihr Arbeitspensum aufgrund unserer vier Kinder reduziert hat», sagt Renato Renner, dessen Frau als Kinderärztin tätig ist. «Hätte ich das gemacht, wäre ich heute wahrscheinlich nicht da, wo ich jetzt bin», ergänzt er und rennt zum Bus. Die Geburtstagsfeier von seinem zweijährigen Sohn beginnt in 30 Minuten. Und die würde sich der Physik-Professor für keine berufliche Verpflichtung entgehen lassen.

Und auch für Mina und Florian geht es nach einem Ausflug zum krippen­eigenen Spielplatz um 17 Uhr nach Hause­. Denn zum Glück beginnt und endet alles mit der Familie – auch an der ETH Zürich. 

Weitere Informationen

Haben Sie eine Idee, wie die Verein­barkeit von Arbeit und Familie an der ETH verbessert werden könnte? Prof. ­Renate ­Schubert freut sich auf Ihre Vorschläge unter

Alle Informationen für (werdende) Eltern­ finden Sie unter www.ethz.ch/elternschaft

Alle Informationen für ETH-­Ange­hörige, die ihre Angehörigen pflegen, finden Sie unter www.ethz.ch/angehoerigenpflege

Das neue ETH-Magazin «life» ist da

Dieser Artikel ist die Titelgeschichte des aktuellen «life».  

In der neuen Ausgabe erklärt ETH-Präsident Lino Guzzella die Hintergründe des Ausbauprojekt ETH+ und warum es den ETH-Angehörigen die einmalige Chance bietet, die Zukunft der ETH Zürich mit eigenen Ideen mitzugestalten. Der dritte Teil der Einblicks-Serie «Forschungsschwerpunkte» widmet sich der Nachhaltigkeit. Ausserdem beantwortet«life» die wichtigsten Fragen zur kommenden Senkung des Umwandlungssatzes bei der Rente und vieles mehr.

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