Zahlentheorie hat kein Geschlecht

Die verborgenen Eigenschaften der Zahlen fesseln Özlem Imamoglu seit ihrer Kindheit. Ausserdem engagiert sich die ETH-Professorin, damit mehr Frauen eine Laufbahn in der Mathematik einschlagen.

Vergrösserte Ansicht: Özlem Imamoglu vor Tafel mit Formeln
Für Özlem Imamoglu ist Mathematik eine Kunstform. (Bild: Florian Bachmann / ETH Zürich)

Wer das Büro von Özlem Imamoglu im ETH-Hauptgebäude betritt, bemerkt zuerst die vielen persönlichen Gegenstände, Bilder der Familie und von Freunden, auch Reiseandenken. Die Professorin lehrt am Departement Mathematik und forscht in der Zahlentheorie. Über ihrem Schreibtisch hängt eine dicht mit Formeln beschriebene Wandtafel. Für den unbedarften, fachfremden Betrachter sind diese Zeichen zunächst wenig durchschaubar - und doch erscheinen sie ganz offensichtlich wohlstrukturiert und wirken wie ein Abbild einer verborgenen Ordnung.

«Für mich ist Mathematik eine Kunstform», sagt Özlem Imamoglu mit Blick auf das «Bild» an der Wand, «denn die Strukturen, die sie beschreibt, finde ich unglaublich schön.» Natürlich spricht die Schönheit der Mathematik nicht im gleichen Mass die sinnliche Wahrnehmung an wie Musik oder Malerei. Sie ist nur bedingt visueller und klanglicher Natur.

Sie ist vielmehr das Ergebnis einer vereinfachenden Abstraktion: «Als Mathematikerin untersuche ich kein einzelnes Objekt, sondern die Eigenschaften, die verschiedene Objekte miteinander teilen. Diese versuche ich, möglichst einfach darzustellen und zu erklären», sagt Imamoglu. Eine Menge mit bestimmten Eigenschaften stellt dabei eine mathematische Struktur dar.

Schönheit in der Wissenschaft der Strukturen

«In der Mathematik geht es hauptsächlich um Strukturen. Sie definiert sich nicht über einen bestimmten Gegenstand. Das unterscheidet sie von vielen anderen Disziplinen», legt Özlem Imamoglu weiter dar. Öl, das in einer Pipeline fliesse, erklärt sie, lasse sich mathematisch ebenso wie das Blut in einer Vene als Bewegung in einem zylinderförmigen Hohlgefäss beschreiben.

Schön und zugleich faszinierend findet sie, wie man umgekehrt auch einfach formulierte, mathematische Lehrsätze anreichern, erweitern und auf komplexe Aufgabenstellungen anwenden könne. Die Strukturen der Zahlen und Abbildungen, die sie untersuche, sagt Imamoglu, stellten beispielsweise Verallgemeinerungen von vergleichsweise einfachen, periodischen Funktionen dar. Diese haben mathematisch die Eigenschaft, dass sich ihre Funktionswerte, also Zahlen, in regelmässigen Abständen wiederholen. Damit lassen sich Schallwellen, Wasserwellen oder elektromagnetische Wellen beschreiben. Davon ausgehend untersucht Imamoglu sogenannte automorphe Formen, die viele interessante, zahlentheoretische Informationen codieren.

Mit dem «Mut der Unwissenheit»

Zur Mathematik kam Özlem Imamoglu selbst eher unbedarft. Mit dem «Mut der Unwissenheit» habe sie ihre Laufbahn als Mathematikerin eingeschlagen, sagt sie im Rückblick auf ihre Studienzeit. Wohl hatte ihr älterer Bruder ihr Interesse an der Mathematik bereits geweckt, als sie noch ein Kind war. Dann aber studierte die Türkin zuerst Elektrotechnik an der Technischen Universität des Nahen Ostens in Ankara. Schliesslich sorgten sich ihre Eltern, dass ein Mathematik-Studium keinen sicheren Berufsweg eröffnete. Lieber hätten sie gesehen, dass ihre Tochter Medizin studierte.

Özlem Imamoglu liess nicht locker und wechselte, kaum dass sie ihr Bachelorstudium abgeschlossen hatte, in die Mathematik. Den Master und das Doktorat absolvierte sie an der Universität von Kalifornien, Santa Cruz. Danach folgten, wie in der internationalen Wissenschaft üblich, verschiedene Anstellungen als Professor an den Universitäten Santa Barbara, Istanbul und an der ETH Zürich. Als sie mit der Mathematik anfing, kannte sie zwar wesentliche Werkzeuge der analytischen Zahlentheorie – wie etwa die Differentialgleichung – aus dem Ingenieurstudium, dennoch fehlten ihr einige mathematische Grundkenntnisse.

«Dass Frauen in der Mathematik weniger begabt seien, hörte ich zum ersten Mal in den USA und in der Schweiz.»Özlem Imamoglu

Wie der «Mythos des Genies» entmutigt

Sie schloss die Lücke und aus der Erfahrung sagt sie heute: «Um in der Mathematik zu reüssieren, braucht es harte Arbeit, Beharrlichkeit, Durchhaltevermögen und nochmals harte Arbeit.» Am meisten ärgert sie der «Mythos des Genies», der behauptet, dass nur von Natur aus begabte Menschen für die Mathematik berufen seien. «Auch das grösste Talent kommt in der Mathematik ohne harte Arbeit nicht weiter», begründet sie, «die Meinung, dass eine erfolgreiche Laufbahn in der Mathematik nur vom natürlichen Talent abhänge, ist speziell für Frauen entmutigend. Vor allem, wenn das Stereotyp hinzukommt, dass Frauen weniger mathematische Fähigkeiten hätten.»

Dieses Stereotyp habe viel mit kulturellen Normen zu tun, sagt Özlem Imamoglu: «Dass Frauen in der Mathematik weniger begabt seien, hörte ich zum ersten Mal in den USA und in der Schweiz. In der Türkei war das damals anders.» Jedenfalls in dem bildungsnahen Umfeld, in dem sie aufwuchs. Für die Entscheidung, ob Frauen einen Karriereweg in der Mathematik einschlügen, spielten solche vorgefassten Meinungen ebenso eine Rolle, sagt Imamoglu, wie ökonomische Rahmenbedingungen, der Frauenanteil in der Professorenschaft oder familienergänzende Betreuungsangebote.

Wichtig für ein Studium sei, dass Frauen ihren Fähigkeiten vertrauten, und dass sie sich untereinander austauschten, sagt Özlem Imamoglu. In den nächsten Tagen engagiert sie sich an der EGMO, der internationalen Mathematik-Olympiade für 14- bis 19-Jährige. «Mir geht es darum, junge Frauen für ein Mathematik-Studium zu motivieren, und ihnen zu vermitteln, dass eine entsprechende Laufbahn für sie möglich ist.»

EGMO - Europäische Mathematik-Olympiade für Mädchen

Seit 2012 fördert die Europäische Mathematik-Olympiade für Mädchen (EGMO) junge, talentierte Frauen in der Mathematik. In diesem Jahr findet sie zum ersten Mal in der Schweiz statt. Gastgeber sind die Universität Zürich und die ETH Zürich. Ausserdem wirken ETH-Studierende in der Organisation mit. Eröffnet wird die EGMO 2017 am 7. April an der ETH Zürich mit einer Begrüssung durch ETH-Rektorin Sarah Springman. Teams aus 43 Ländern mit je vier Mittelschülerinnen werden sich an zwei 4,5-stündigen Prüfungen messen. Diese erfordern logisches Denken, Kreativität, Ausdauer und Übung. Die Medaillenverleihung findet am 11. April auf dem Campus Irchel statt - mit Ansprachen von UZH-Rektor Michael Hengartner und der Zürcher Bildungsdirektorin Silvia Steiner.

externe SeiteEuropean Girls' Mathematical Olympiads (EGMO) 6. - 12. April 2017 in Zürich: Frauenpower und Spass in Mathematik!

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